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Blog der Doktorandinnen und
Doktoranden am Dubnow-Institut

»A New State and a Happier Social Order«

Kallen und Brandeis zum amerikanischen Zionismus

von

»In Palestine we aim at a new state and a happier social order«, konstatierte Horace M. Kallen, der insbesondere durch sein Konzept des Cultural Pluralism Bekanntheit erlangte, im Entwurf eines Schreibens vom Dezember 1913. Die prägnante Formulierung einer doppelten Zielsetzung des amerikanischen Zionismus richtete Kallen an Louis D. Brandeis, noch bevor dieser die Leitung der neu strukturierten amerikanischen zionistischen Organisation übernahm und während des Ersten Weltkrieges zu deren zentraler Persönlichkeit avancierte. Wie wichtig Kallens Pläne für ein politisches Gemeinwesen in Palästina für Brandeis waren, zeigt sich in ihrem Briefwechsel, der mit jenem schließlich auf den 20. Dezember 1913 datierten Schreiben Kallens anhob. Doch was verband den Vordenker des Pluralismus und den Präsidenten der amerikanischen zionistischen Organisation miteinander und worum drehte sich ihre Auseinandersetzung um den Zionismus?

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Entwurf eines Schreibens von Horace Kallen an Louis Brandeis vom 20. Dezember 1913 © The Jacob Rader Marcus Center of the American Jewish Archives (AJA), Horace M. Kallen Papers. 1902–1982, Manuscript Collection No. 1, 4/10: Brandeis, Louis D., 1913–1915.
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Entwurf eines Schreibens von Horace Kallen an Louis Brandeis vom 20. Dezember 1913 © The Jacob Rader Marcus Center of the American Jewish Archives (AJA), Horace M. Kallen Papers. 1902–1982, Manuscript Collection No. 1, 4/10: Brandeis, Louis D., 1913–1915.
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Entwurf eines Schreibens von Horace Kallen an Louis Brandeis vom 20. Dezember 1913 © The Jacob Rader Marcus Center of the American Jewish Archives (AJA), Horace M. Kallen Papers. 1902–1982, Manuscript Collection No. 1, 4/10: Brandeis, Louis D., 1913–1915.

Erstmals begegnet waren sich beide während Kallens Studienzeit in Harvard sowie später in Madison, wo Kallen seit 1911 an der University of Wisconsin lehrte. Dem Zionismus aber hatte sich Brandeis erst ab dem Jahr 1910 allmählich zugewandt. Mit Blick auf Brandeis’ Engagement für die Etablierung einer American Palestine Company betonte Kallen in seinem Schreiben nun verstärkt die herausragende Bedeutung sozialer Fragen bei der Errichtung eines neuen Gemeinwesens in Palästina. Sozialer und ökonomischer Ungerechtigkeit gelte es schon in den ersten politischen Anfängen entgegenzuwirken, insbesondere bei der Organisation von Landwirtschaft und Industrie. Wenn aus historischem Urteilsvermögen heraus Fehlentwicklungen gleich zu Beginn vermieden würden, ließe sich in dem neu einzurichtenden Gemeinwesen ein freier und fairer Austausch realisieren. Kallen konzentrierte sich besonders auf sozialpolitische Fragen, für die Brandeis bereits in seiner Karriere als Anwalt und Reformer des Progressive Movement vielfach eingetreten war. Dass Brandeis diese Anliegen aber schließlich mit einem zionistischen Engagement verband und auf ein säkulares amerikanisch-jüdisches Selbstverständnis gründete, ist maßgeblich auf die Wirkung von Kallens Ideen zurückzuführen.

In seinem Antwortschreiben begrüßte Brandeis die Initiative und bat um ein ausführliches Memorandum. Kallen verfasste daraufhin eine Denkschrift unter dem Titel The International Aspects of Zionism, die er mit Brandeis während einer gemeinsamen Schiffsreise von Boston nach New York am 29. August 1914 besprach. Bei dieser Gelegenheit scheint es Kallen auch gelungen zu sein, Brandeis endgültig von der Vereinbarkeit des jüdischen Nationalismus mit amerikanischem Patriotismus zu überzeugen. Am Tag darauf nahm Brandeis in New York den Vorsitz der amerikanischen zionistischen Organisation an. Noch im Jahr 1915 begann Kallen die Arbeit an einer Verfassung für das zu begründende Gemeinwesen in Palästina. Ihren bedeutendsten Niederschlag fanden Kallens Entwürfe schließlich im Pittsburgh Program des Jahres 1918. Dieses fixierte die Zielsetzung, ein pluralistisches Gemeinwesen in Palästina zu errichten, das allen Bewohnern unabhängig von Herkunft, Geschlecht oder Religion dieselben Rechte gewährt. Bildung und die Ressourcen des Landes sollten allen gleichermaßen zugänglich sein, Industrie, Handel und Landwirtschaft weitgehend kooperativ organisiert werden.

Horace M. Kallen (1882–1974) und Louis D. Brandeis (1856–1941)
Horace M. Kallen (1882–1974) © The Jacob Rader Marcus Center of the American Jewish Archives (AJA) Horace M. Kallen Photocollection (PC-2161) und Louis D. Brandeis (1856–1941) © Harris & Ewing, Library of Congress Prints and Photographs Division Washington, D.C.

Bereits am 27. September 1914, knapp einen Monat nachdem ihm die Leitung der amerikanischen zionistischen Organisation übertragen worden war, unterstrich Brandeis, dass ihn »Americanism« – seine Verbundenheit mit den Idealen Amerikas – zum Zionismus geführt habe. Welche Bedeutung Brandeis den amerikanischen Leitbildern zuschrieb, erläuterte er in seiner Festrede über True Americanism, gehalten in der Bostoner Faneuil Hall am 4. Juli 1915, dem amerikanischen Unabhängigkeitstag, der in jenem Jahr zugleich als »Americanization Day« begangen wurde. Hier ließ Brandeis auch Vorstellungen von amerikanischer Demokratie als kulturellem Pluralismus anklingen, wie Kallen sie erst wenige Monate zuvor, im Februar 1915, in seinem einschlägigen Essay Democracy Versus The Melting-Pot entwickelt hatte. Eine gelungene Amerikanisierung von Einwanderern, so argumentierte Brandeis, artikuliere sich vorrangig in deren Partizipation an der Realisierung amerikanischer Ideale, die auf das individuelle wie gesellschaftliche Wohl im Ringen um Demokratie und soziale Gerechtigkeit zielten. Die konstitutionell verbürgten Rechte seien hierbei als amerikanischer Standard zu betrachten: das Recht auf Leben, Freiheit und Streben nach Glück. Von diesem Maßstab leitete Brandeis eine notwendige materielle Sicherheit ab, etwa in Bezug auf Einkommens- und Arbeitsbedingungen, aber auch einen dauerhaften Zugang zu Bildung. Wie Kallen dachte auch Brandeis Freiheit nicht allein als eine politische. Er sprach von einer durch gewerkschaftlichen Zusammenschluss und Kooperation anzustrebenden »industrial liberty« der Arbeiter und von deren finanziellem Schutz durch ein Sozialversicherungssystem. Doch die Besonderheit Amerikas bestand für Brandeis weder in seinem Einstehen für soziale Gerechtigkeit noch für die Freiheit des Individuums allein. Vielmehr hätten sich die Vereinigten Staaten stets auch für gleiche Rechte der Nationalitäten eingesetzt und mehr noch den jeweiligen Beitrag der unterschiedlichen Kulturen zur Verwirklichung amerikanischer Ideale wertgeschätzt. Ein Internationalismus, der die Vielfalt der Nationalitäten aufzuheben suche, verdiene seinen Namen nicht.

Als Internationalismus aber begriffen Brandeis und Kallen die zionistische Bewegung. Kallens 1921 veröffentlichtes Werk Zionism and World Politics bringt die soziale und ökonomische Dimension des amerikanischen Zionismus ausführlich zur Geltung. Kallen bezog sich dabei etwa auf Moses Hess’ Vorstellung, den Juden komme bei der Realisierung sozialer Gerechtigkeit eine historische Aufgabe zu. Auch ließ er sich von Theodor Herzls Roman Altneuland inspirieren. Nicht die Organisation eines Auswegs aus Verfolgung, sondern die Verwirklichung einer gerechten staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung in Palästina war das primäre Anliegen eines Zionismus, für den sich Kallen einsetzte. Und nicht zuletzt war es der Arbeiterzionismus des 1907 in die Vereinigten Staaten immigrierten Nachman Syrkin, der Kallens Denken prägte. Grundsätzlicher aber verstand Kallen seine Ideen in der Tradition der biblischen Propheten, die er »Hebraism« nannte. Die politische Lehre der Propheten habe die Rechtschaffenheit (righteousness) im Sinne einer Ausübung von sozialer Gerechtigkeit (justice) über die rituelle Verehrung Gottes gestellt und sie zum Garanten nationaler Sicherheit erklärt. So knüpfte Kallens Zionismus vor allem an eine internationalistische Hoffnung der Propheten an, die eine politische Wiederherstellung der jüdischen Nation und zugleich eine Ära globalen Friedens, der Kooperation und der Herrschaft internationalen Rechts umfasste. Im Dialog zwischen Kallen und Brandeis zeigt sich damit im Kern vor allem ein Ringen um Fragen sozialer Gerechtigkeit und ein Zionismus, der unter Bezugnahme auf die amerikanische politische Tradition den Aufbau einer pluralistischen Gesellschaft in Palästina anstrebte.

Dr. des. Imanuel Clemens Schmidt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Institut für jüdische Geschichte und Kultur – Simon Dubnow und arbeitet derzeit am Taub Center for Israel Studies der New York University sowie am Center for Jewish History in New York City an einem Postdoc-Projekt zu Horace M. Kallen | schmidt(at)dubnow.de

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