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Blog der Doktorandinnen und
Doktoranden am Dubnow-Institut

Euphorischer Beginn einer konfliktreichen Kooperation

Der World Jewish Congress und die Zentrale Stelle in Ludwigsburg

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»Jeder der wünscht, dass grausame Verbrechen gesühnt werden […], sollte der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen beistehen.« Dieses Fazit zog im Juli 1959 der aus Nazideutschland in die USA emigrierte Publizist Kurt R. Grossmann in der deutsch-jüdischen Monatszeitschrift Aufbau, New York, nachdem er die jüngst gegründete Ermittlungsstelle zur Strafverfolgung von NS-Verbrechen besucht und mit dem Leiter, Oberstaatsanwalt Erwin Schüle, konferiert hatte. Zugleich legte Grossmann in einem vertraulichen Memorandum führenden Vertretern des in New York ansässigen World Jewish Congress die Unterstützung Schüles dringend nahe. Beide Quellen dokumentieren eine geradezu euphorische Perspektive auf den Beginn einer jahrzehntelangen Kooperation, deren problematische Grundlage sich jedoch bald offenbarte.

Die Eröffnung der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen (kurz: Zentrale Stelle) in Ludwigsburg am 1. Dezember 1958 war ein absolutes Novum in der noch jungen westdeutschen Justizgeschichte. Zentralisiert und damit bundesländerübergreifend sollten hier Verfahren zu NS-Verbrechenskomplexen eingeleitet und ermittelt werden. Die Einrichtung der Behörde war mitnichten Ausdruck einer Aufbruchstimmung, NS-Mordverbrechen konsequent zu ahnden. Vielmehr wurde ein dringend notwendiges Zeichen der Willensbekundung gesetzt, nachdem die Lethargie mit der NS-Verbrechen in den 1950er Jahren verfolgt wurden, die bevorstehende Verjährung von Totschlagverbrechen ab Mai 1960 und die drohende Verjährung sogar von Mordverbrechen im Jahr 1965 der mittlerweile westintegrierten Bundesrepublik ein desaströses Außenbild beschert hatten. Gemäß der getroffenen Verwaltungsvereinbarung der Länder waren die Ludwigsburger Ermittler zunächst ausschließlich für NS-Massenverbrechen zuständig, die außerhalb des Bundesgebiets in Ghettos, Konzentrations- und Vernichtungslagern begangen wurden, sowie durch die Mordaktionen der berüchtigten Einsatzgruppen. Bei den internationalen Recherchen nach Tatverdächtigen, Dokumenten und Zeugen war der kleine Stab der Staatsanwälte auf jüdische Organisationen und NS-Verfolgtenverbände angewiesen, mit denen sie sogleich in Verbindung traten.

Kurt R. Grossmann, Kein Nazi-Verbrecher darf sich verstecken, in: Aufbau, 24. Juli 1959, 50.
Kurt R. Grossmanns Artikel über die Zentrale Stelle, Ludwigsburg in der deutsch-jüdischen Zeitschrift Aufbau, 24. Juli 1959.
Kurt R. Grossmann, Kein Nazi-Verbrecher darf sich verstecken, in: Aufbau, 24. Juli 1959, 50.
Kurt R. Grossmanns Artikel über die Zentrale Stelle, Ludwigsburg in der deutsch-jüdischen Zeitschrift Aufbau, 24. Juli 1959.
AJA WJC, C178/11, Trial correspondence 1959; Memorandum verfasst von Kurt R. Grossmann, undatiert.
Memorandum von Kurt R. Grossmann zu seiner Besprechung mit dem Leiter der Zentralen Stelle, Ludwigsburg am 16. Juni 1959, die Adressaten sind Repräsentanten des World Jewish Congress und des Institute of Jewish Affairs.

Kurt R. Grossmanns Besuch in Ludwigsburg am 16. Juni 1959 stand im Kontext dieser Tuchfühlung zwischen Zentraler Stelle und dem World Jewish Congress (WJC). In dem dreistündigen Gespräch trug Schüle einige aktuelle Ermittlungskomplexe vor, allesamt Massenverbrechen der Einsatzgruppen, unter anderem in Litauen, Weißrussland und der Ukraine. Seine Intention war eindeutig: Das Aufklärungsvorhaben hing ganz wesentlich vom Augenzeugenbeweis jüdischer Überlebender ab, die auf der ganzen Welt verstreut waren und, laut Schüle, auf die Anfragen deutscher Staatsanwälte häufig »widerwillig« reagierten. Der international vernetzte WJC war prädestiniert, Überlebende zu finden und als Vertrauensvermittler aufzutreten. Grossmann zeigte sich für das Anliegen des »liebenswürdigen Süddeutschen« überaus empfänglich. In seinem Memorandum forderte er die WJC-Repräsentanten dazu auf: »Dr. Schuele and his stuff are most dedicated to the task and need our utmost assistance.« In diesem Moment schien kein Gedanke aufzukommen, dass diese rein informelle Kooperation einige Hürden in sich barg, die mit den eigenen Interessen und der Agenda des WJC kollidieren könnten, der seit 1943 mit der Gründung des Institutes of Jewish Affaires (IJA) mit der Strafverfolgung von NS-Verbrechen befasst war. Einzig in seinem Artikel im Aufbau deutete Grossmann auf einen heiklen Punkt hin: »Es wäre gewiss unklug hier einzelne in Vorbereitung befindliche Fälle aufzuzeigen. Schüle geht in der Ermittlung neue Wege.«

Besagte »neue Wege« bedeuteten ganz konkret, die Weitergabe von Erkenntnissen aus laufenden Ermittlungsverfahren einer deutschen Justizbehörde an eine nicht staatliche jüdische Organisation, die mit der Suche und Kontaktaufnahme von Zeugen betraut worden war. Das heißt, Schüle wie auch der WJC bewegten sich mit dieser Kooperation in einem sensiblen Graubereich. Im Sommer 1959 nahm der aus Litauen stammende Jurist und Leiter des IJA Nehemia Robinson mit großem Elan für unzählige Verfahren zu nationalsozialistischen Gewaltverbrechen (kurz: NSG-Verfahren) die Zeugensuche für die Zentrale Stelle auf. Im Kontext der angelaufenen Ermittlungen zu Verbrechen im Vernichtungslager Sobibor vermittelte er unter anderem über zwanzig Überlebende aus den USA, Israel, Brasilien und Australien. Im Frühjahr 1962 brach ein erster tiefgreifender Konflikt auf: Schüle warf Robinson aufgebracht vor, dieser würde die Ermittlungen gefährden, weil der WJC Namenslisten von NS-Tätern veröffentlicht habe, die nur aus der gemeinsamen Korrespondenz stammen könnten. Er, Schüle, habe durch die Zusammenarbeit mit »Privatpersonen und privaten Vereinigungen« eine »unorthodoxe Aufklärungsmethode« eingeführt, durch Robinsons unsensiblen Umgang wären nun »die Früchte [seiner] langjährigen und sorgfältigen Kleinarbeit in Gefahr«. Robinson konterte zum wiederholten Male, dass die NS-Täterlisten aus dem seit 1945 zusammengetragenen Dokumentenbestand des WJC stammten und die internationale jüdische Interessenvertretung nicht darauf verzichten werde, ihre Forderungen hinsichtlich der Suche nach NS-Tätern zu veröffentlichen. An der Leitlinie Schüles, die Kooperation Ludwigsburg-New York nicht an die Öffentlichkeit dringen zu lassen, entspann sich ein Konflikt, der sich in unterschiedlicher Form über Jahre fortsetzen sollte. Eine offene Klarstellung, dass die Zentrale Stelle vor allem bei der Zeugensuche auf die internationale jüdische Organisation angewiesen war, kam für ihn nicht infrage.

Letztendlich ordnete Schüle zumindest innerhalb seiner Behörde halboffiziell die Regelung an, dass die Zusammenarbeit mit dem WJC nicht öffentlich zur Sprache kommen sollte. Die Verschleierungstaktik rückte den WJC ins ominöse Halbdunkel und bildete eine Steilvorlage für die diskreditierenden Angriffe der Verteidiger in den westdeutschen NS-Prozessen. Im großen Sobibor-Prozess in Hagen 1965/66 wurde der internationalen jüdischen Organisation unterstellt, einzelne Zeugen manipuliert beziehungsweise, im antisemitischen Duktus der jüdischen Weltverschwörung, die gesamte jüdische Zeugengruppe gesteuert zu haben. Der von Grossmann enthusiastisch als »[e]in der Sache ergebener Mann« eingeschätzte Erwin Schüle wurde im August 1966 als Leiter der Zentralen Stelle abgelöst. Er war nicht mehr tragbar, nachdem die ostdeutsche Nachrichtenagentur ADN seine Mitgliedschaften in der SA und NSDAP bekannt gegeben hatte. Schüles Strategie, seine wohl eher als Mitläufertum einzuordnende und in den Ministerien längst bekannte NS-Vergangenheit vor der Öffentlichkeit strikt geheim zu halten, hatte ihn zu Fall gebracht.

Dagi Knellessen bearbeitet ein Promotionsprojekt zur Geschichte der jüdischen Zeugen in den bundesrepublikanischen NS-Prozessen zum Vernichtungslager Sobibor zwischen 1949 und 1989. In der dritten Ausgabe von Jüdische Geschichte & Kultur. Magazin des Dubnow-Instituts erschien ein weiterer Artikel von ihr, der sich ausführlicher mit der Zentralen Stelle in Ludwigsburg auseinandersetzt und dabei Nehemia Robinson in den Mittelpunkt rückt | knellessen(at)dubnow.de

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