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Blog der Doktorandinnen und
Doktoranden am Dubnow-Institut

Handwerk oder Kunst?

Ein New Yorker Sederteller und die Wiederentdeckung von Rahel Ruth Sinasohn

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Wenn wir historische jüdische Zeremonialobjekte betrachten, fragen wir meist zuerst nach ihrer Verwendung. Die zweite Frage, die wir an diese Gegenstände stellen, betrifft ihre Besitzerinnen und Besitzer sowie deren Lebensgeschichten. Wie kamen die Stücke in die Familien und was bedeuteten sie ihren Eigentümerinnen und Eigentümern? Wer war für die Entwürfe zuständig und wer stellte sie her? Die Antworten hierauf sind häufig im Netz der Erinnerungen überlagert worden oder über die Jahre verloren gegangen.

Im Rahmen meiner Promotionsrecherche begegnete ich im Leo Baeck Institute in New York City einem bemerkenswerten Sammler. Ein »typischer New Yorker« – offen, großherzig, mit fester Stimme und legerer Kleidung – blickte ich ihn wie gebannt an, als er aus seiner unscheinbaren Sporttasche, in Handtücher gewickelt, nacheinander mehrere Schätze aus seiner Sammlung hervorholte. Obwohl er über ein großes Wissen zu seiner Sammlung verfügte, gab ihm ein Stück seit Längerem Rätsel auf. Es handelte sich um einen Sederteller, und er fragte mich, ob ich ihm Näheres dazu sagen könne. Leider konnte ich es nicht, doch seine Frage war der Beginn einer detektivischen Recherchereise, die von New York über Hellerau nach Berlin führte.

Den Ausgangspunkt bildete der von Hand getriebene Teller aus Messing mit seinem ungleichmäßigen, mit einem Blattmuster geschmückten Rand. Die Tellerinnenfläche dominiert im oberen Teil eine aus einer Wolke hervorkommende Hand, die den Weg durch die Wüste weist. Seitlich daneben zieren zwei florale Ranken den Teller. Den unteren Bereich füllen ungleichmäßige Ringe für die Bestandteile des Sedermahls mit hebräischen Bezeichnungen für die jeweiligen Speisen. Im Zentrum steht »Pessach-Seder.«

Sederteller, Sammlung Tsadik Kaplan. Foto: Hannah-Lea Wasserfuhr.
Sederteller, Sammlung Tsadik Kaplan. Foto: Hannah-Lea Wasserfuhr.

Die weitere Beschriftung auf der Fahne lieferte für die Suche nach der Herkunft des Tellers erste aufschlussreiche Hinweise: Auf dem Tellerrand verteilt befinden sich die hebräischen Lettern für das Jahr 1922 und der hebräische Schriftzug »Dresden«. Der Sammler hatte den Teller als Werk des dänischen Künstlers Mogens Ballin im Kunsthandel erworben. Doch wunderte er sich über den Schriftzug »Dresden«, denn beides schien nicht recht zueinander zu passen. Als bedeutsam erwies sich auch die Rückseite des Objekts mit dem Stempel »MM J15«. Bei der Entschlüsselung der Marke half der Zufall, der mich überdies zu weiteren Objekten mit ähnlichen Marken führte.

In einer anderen Privatsammlung auf Long Island entdeckte ich eine bronzene Menora, deren Arme markante stilisierte Blütenblätter und -kelche zieren. Die Menora trägt die Markierung »M MACHE J20«. Auf dem Sockel prangt ein gravierter Schriftzug aus Psalm 92:3, auf den einzelnen Standfüßen befinden sich je ein Davidstern und eine Krone. Den vierten Fuß schmückt eine gänzlich andere Gravur, die mir den entscheidenden Hinweis für die Identifikation des Herstellers lieferte. In hebräischen Buchstaben stehen dort »Hellerau« und das Jahr 1923.

Als Zentrum der Deutschen Werkstätten und der dazugehörigen Künstlerkolonie genoss Hellerau in den 1920er Jahren einen besonderen Ruf. In den Adressbüchern für Dresden und seine Vororte, die ich systematisch durchsah, stieß ich auf einen Gold- und Silberschmied namens Max Mache, der von 1920 bis 1928 in Hellerau verzeichnet war. Dieser Fund legte nahe, in der Marke »M Mache« beziehungsweise abgekürzt »MM« die Signatur jenes Max Mache zu sehen. Die Herstellung des Sedertellers durch diesen Hellerauer Handwerker, damals noch ein Vorort von Dresden, erklärte auch, warum auf dem Teller »Dresden« steht. Für diese Zuschreibung sprachen schließlich stilistische Ähnlichkeiten mit vergleichbaren Werken aus der Künstlergemeinde Hellerau.

Da ähnliche Objekte, wie ich sehr bald feststellte, von der Fachwelt häufig der dänischen Firma von Mogens Ballin zugeschrieben wurden, sah ich mir diese Judaica genau an. Bis auf wenige Stücke, die tatsächlich von Mogens Ballin hergestellt worden waren, verwiesen die meisten auf Max Mache. Wie der Sederteller sind sie mit »MM« beziehungsweise »M Mache« sowie einer Kombination aus »J« und einer laufenden Zahl, vermutlich die Modellnummer, markiert. Zusammengenommen ergaben sie eine ganze Serie von Ritualgegenständen. Gemeinsam ist allen, dass sie über ein ausgefeiltes Bildprogramm verfügen, das nur von einer Person mit tiefgehendem religiösen Wissen erdacht worden sein konnte. Konnten die Entwürfe, so fragte ich mich, also wirklich von Max Mache stammen?

Auf der Suche nach dem Ursprung des Entwurfs kam mir schließlich ein weiteres Mal der Zufall zu Hilfe. Bei der Durchsicht des Israelitischen Familienblatts stolperte ich über einen Beitrag in der Beilage »Aus alter und neuer Zeit« aus dem Jahr 1927, der einen Teller aus Messingbronze abbildet. In Machart und Stil – etwa der Blattverzierung und den runden Ornamenten – ist er dem Sederteller erstaunlich ähnlich. Auch die Platzierung der Schrift und die verwendete Schrifttype sind nahezu identisch.

Das Objekt war Teil eines Ausstellungsberichts über die Künstlerin Rahel Ruth Sinasohn in Berlin. Wer diese Rahel Ruth Sinasohn war, beleuchtet eine kleine Biografie, die ihr Ehemann Max Sinasohn nach ihrem Tod 1969 veröffentlichte. 1891 in Gnesen, in der Nähe von Posen, in einen streng religiösen Haushalt geboren, ließ sie sich später in Berlin nieder, wo sie kunsthandwerklich tätig war. Während eines Werkstattbesuchs bei einem Kristallschleifer, so ist es überliefert, hatte sie eine zündende Idee: Sie bat die Schleiferei, von ihr gezeichnete und zusammengestellte Davidsterne und hebräische Sprüche in die Gläser einzuarbeiten, die sie anschließend in Berlin verkaufte. 1924 fand sie in der Ansbacher Straße in Schöneberg eine Wohnung, in der sie durch den Architekten Harry Rosenthal Ausstellungs- und Verkaufsräume einrichten ließ. Damit gelang Sinasohn der Durchbruch. Ihrem Ehemann zufolge habe sie es kaum mehr geschafft, der Nachfrage gerecht zu werden: »[F]ast in allen Synagogen Berlins konnte man Arbeiten aus ihrem Atelier finden«.

Nach dem Zufallstreffer im Israelitischen Familienblatt durchsuchte ich systematisch weitere Zeitungen nach Hinweisen auf die Künstlerin. Neben Werbeannoncen für ihr Atelier »KunstSina« belegen Presseberichte ihre Teilnahme an verschiedenen Ausstellungen, etwa zum »Kunstschaffen der jüdischen Frau«. Letztere war wohl auch der Auslöser eines kleinen Beitrags über ihre Arbeiten in der CV-Zeitung mit mehreren Abbildungen – einem Porträt und vier Objekten –, die einen neuen Hinweis für die Schnitzeljagd lieferten. Klein und im schlechten Digitalisat kaum leserlich, steht in der rechten unteren Ecke der Name des Pressefotografen: Herbert Sonnenfeld, dessen Nachlass sich heute zu einem Großteil im Jüdischen Museum Berlin befindet. Und tatsächlich haben sich dort auch die Fotografien für diesen Beitrag in der CV-Zeitung erhalten, darunter auch solche von Objekten mit der Signatur »MM« oder »M Mache«.

Artikel »Sakrales Kunstgewerbe in neuer Form«, in: CV-Zeitung, Jg. 13, Nr. 46, 15. November 1934 (Beiblatt). Quelle: Compact Memory, Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg, Frankfurt am Main.
Artikel »Sakrales Kunstgewerbe in neuer Form«, in: CV-Zeitung, Jg. 13, Nr. 46, 15. November 1934 (Beiblatt). Quelle: Compact Memory, Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg, Frankfurt am Main.

Mit diesem Fund ließ sich die Verbindung zwischen der Berlinerin Sinasohn und dem Hellerauer Max Mache zweifelsfrei belegen. Im Israelitischen Familienblatt vom 14. Februar 1924 wird in Bezug auf Sinasohns Werke explizit erwähnt, dass »die Hellerauer Kunstwerkstatt in großer Auswahl kunstvoll ausgeführte Kultusgegenstände [für einen Jubeltag der Gemeinde Stettin] zur Verfügung gestellt« hatte. Die Vermutung liegt daher nahe, dass die Markierungen »Dresden« und »Hellerau«, also die Zusammenarbeit zwischen Rahel Ruth Sinasohn und Max Mache, den Zweck erfüllen sollten, eine Lücke im Produktrepertoire der bekannten Deutschen Werkstätten zu schließen, die ansonsten keine jüdischen Ritualobjekte produzierten.

Die bisher wiederentdeckten, von Sinasohn entworfenen und von Mache ausgeführten Objekte machen die Einordnung eines Kritikers der Berliner Ausstellung von 1924 nachvollziehbar: »Die junge Künstlerin weist uns neue Bahnen, alles Geschmacklose, alles Unechte, alles Scheinmaterial unserer jüdischen Ritus- und Schmuckgegenstände auszuschließen«. Sinasohn gehörte zu einer größeren Gruppe von Künstlerinnen und Künstlern, Kunsthandwerkerinnen und Kunsthandwerkern, die sich nach der Proklamation einer »jüdischen Renaissance« durch Martin Buber im Jahr 1901 bewusst dem Genre der Ritualobjekte zuwandten, um diese von der zu dieser Zeit als minderwertig und »unecht« abgelehnten Massenware zu lösen und dem jüdischen Bürgertum während der Weimarer Republik eine künstlerisch gestaltete Alternative anzubieten. An ihre vergessene Geschichte erinnern heute die sich noch in Privatnutzung oder in Sammlungen befindenden Objekte, die nun wieder den gesicherten Namen ihrer Schöpferin Sinasohn tragen sollten.

Hannah-Lea Wasserfuhr ist Doktorandin an der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg und der Universität Heidelberg. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt in der Angewandten Kunst, wobei ihr Interesse vor allem der Produktion und Vermarktung von jüdischen Ritualgegenständen vor der Schoah in Deutschland gilt | h.l.wasserfuhr@gmail.com.

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