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Volksfamilie oder Vaterland?

Markus Brann und Max Freudenthal über jüdische Zugehörigkeit im Kaiserreich

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Ende Dezember 1912 wandten sich der Reformrabbiner Max Freudenthal und der Pädagoge Jakob Seifensieder aus Nürnberg mit einem Brief an den Historiker Markus Brann. Sie baten ihn um Unterstützung eines Aufrufs, »dem Germanischen Museum in Nürnberg eine Sammlung solcher Altertümer anzugliedern, die für das Leben der Juden in Deutschland charakteristisch und wertvoll sind«. Brann war für sie ein wichtiger Adressat, weil er die Leitung des Jüdisch-Theologischen Seminars in Breslau innehatte und sich – neben anderem – besonders der Überlieferung und Bewahrung jüdischer Kultur widmete.

Aufruf für die Errichtung einer jüdischen Abteilung im Germanischen Nationalmuseum, Dezember 1912. Quelle: Markus Brann Archive, National Library of Israel, ARC. Ms. Var. 308 398.
Aufruf für die Errichtung einer jüdischen Abteilung im Germanischen Nationalmuseum, Dezember 1912. Quelle: Markus Brann Archive, National Library of Israel, ARC. Ms. Var. 308 398.

An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert entstanden vielerorts jüdische Museen. Sie sollten helfen, sich der eigenen Geschichte und Tradition angesichts der Herausforderungen der Moderne zu versichern. Das erste Museum dieser Art wurde 1895 in Wien eröffnet. Freudenthal und Seifensieder planten, zusammen mit acht weiteren Unterzeichnern aus dem gehobenen Nürnberger Bürgertum, gerade kein eigenständiges jüdisches Museum, sondern »die Errichtung einer jüdischen Abteilung im Germanischen Museum«. Dem Aufruf war eine wohlwollende Erklärung vom Direktorium der 1852 gegründeten Einrichtung beigegeben.

In den zeitgeschichtlichen Kontext der Gründungsinitiative gehört, dass sich am 11. März 1912 der Erlass des Edikts betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden in dem Preußischen Staate, ein wesentlicher Schritt zur rechtlichen Emanzipation der preußischen Juden, zum einhundertsten Mal jährte. Und auch das Auftreten mehrerer antisemitischer Parteien im Wahlkampf zur Reichstagswahl im Januar desselben Jahres, das die Fragilität der gleichberechtigten jüdischen Existenz im Kaiserreich gezeigt hatte, war noch in negativer Erinnerung. Unmittelbare kulturpolitische Bedeutung besaß schließlich die Kunstwart-Debatte, die sich als Reaktion auf Moritz Goldsteins Aufsatz Deutsch-jüdischer Parnaß in der Märzausgabe der Zeitschrift entsponnen hatte.

Goldstein konstatierte einerseits, das Judentum sei »im Laufe einer mehr als tausendjährigen Gemeinschaft mit dem Deutschtum so eng in den Wurzeln verwachsen, dass beide nicht mehr voneinander gelöst werden können«. Wie ein Echo hieß es im Gründungsaufruf, die Sammlung jüdischer Exponate im Germanischen Nationalmuseum möge »die seit alters her zwischen christlichen und jüdischen Deutschen bestehenden Beziehungen und den Anteil der Juden an der deutschen Kulturentwicklung vor Augen« führen. Doch weil andererseits die Juden, so Goldstein, den Deutschen als »ganz undeutsch« erscheinen würden, forderte er: »Wir wollen nicht mehr unser Leben einsetzen für die Kultur eines Volkes, das unsre tätige Mitarbeit für jüdische Aufdringlichkeit erklärt.«

Deutsche Jüdinnen und Juden erörterten seit der formalen Gleichstellung 1871 leidenschaftlich die Frage, mit welchen Begriffen sich ihre Stellung im Kaiserreich charakterisieren lasse. Waren sie als Teil des deutschen Volks trotzdem eine eigene Nationalität, eine nationale Minderheit, ein Stamm oder schlicht eine (weitere) Konfession? Die Thematik der Zugehörigkeit grundierte auch die Frage des Umgangs mit materiellen Objekten deutsch-jüdischer Kultur. Sollten diese als etwas Eigenes, Eigenartiges, ja Einzigartiges an nur zu diesem Zweck geschaffenen Ausstellungsorten gezeigt werden? Oder gehörten sie nicht als Artefakte deutsch-jüdischen Zusammenlebens ganz selbstverständlich in Museen für »deutsche Geschichte«? Nicht zuletzt solche Fragen, mit deren Beantwortung sich die Entscheider schwertaten, bremsten den Gründungsversuch einer jüdischen Abteilung im Germanischen Nationalmuseum; spätestens mit Kriegsbeginn 1914 kamen die Bemühungen dann endgültig zum Erliegen.

Brann und Freudenthal fanden gegensätzliche Antworten auf diese Fragen. Obgleich beide als Vertreter der Wissenschaft des Judentums und am Jüdisch-Theologischen Seminar in Breslau ordinierte Rabbiner dieselbe intellektuelle Herkunft teilten, bestanden zwischen ihnen tiefgreifende inhaltliche Differenzen. Freudenthal war ein wichtiger Protagonist der Reformbewegung und Mitglied des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV). Brann hingegen vertrat die positiv-historische Strömung im deutschen Judentum, die sich als Mittelweg zwischen den beiden »extremen« Ausformungen des religiösen Bekenntnisses, Reform und Orthodoxie, verstand. Auch dem programmatischen Assimilationsgedanken des CV stand er skeptisch gegenüber. Daher nahm er an einer Formulierungen Anstoß, mit der Freudenthal und Seifensieder die Museumsinitiative zu begründen suchten.

In seiner Antwort vom 6. Januar 1913 machte Brann zunächst deutlich, dass es keine Frage des Patriotismus war, die ihn von Freudenthal trennte: »Selbstverständlich sind wir deutsche Juden, wobei ich das ›deutsche‹ doppelt unterstreiche.« Allerdings hielt er die im Aufruf genutzte »Wendung von unserer Zugehörigkeit zur grossen deutschen Volksfamilie […] einfach für geschichtlich und ethnologisch unrichtig«. Dass, wie dort zu lesen war, die Integration jüdischer Altertümer in das Germanische Nationalmuseum »auch äußerlich unsere Zugehörigkeit zur großen deutschen Volksfamilie« kundtun solle, lehnte Brann ab. Er strich diese Formulierung mit schwarzer Tinte durch.

Brief von Markus Brann an Max Freudenthal, 6. Januar 1913. Quelle: Markus Brann Archive, National Library of Israel, ARC. Ms. Var. 308 398.
Brief von Markus Brann an Max Freudenthal, 6. Januar 1913. Quelle: Markus Brann Archive, National Library of Israel, ARC. Ms. Var. 308 398.

Aus der assimilationsorientierten Sicht des CV erschien das Aufgehen der Juden in der »großen deutschen Volksfamilie« als Idealbild. »Doch wir vergessen und vernachlässigen darüber unser Judentum nicht, das den anderen Pol unseres Daseins bildet«, hatte Seifensieder in der CV-Zeitschrift Im deutschen Reich ergänzt, als er im April 1912 erstmals den Plan eines »Jüdisch-Germanischen Museums« präsentierte. Aber genau diese Vernachlässigung befürchtete Brann mit der »ethnologischen« Eingemeindung in die »große deutsche Volksfamilie«. Er empfahl stattdessen folgenden Wortlaut für den Aufruf: Die jüdische Museumsabteilung möge »auch äusserlich von unserer Mitarbeit an der Ausgestaltung der deutschen Kultur Zeugnis« ablegen. Moritz Goldstein wiederum hatte im Kunstwart gerade davor gewarnt, weil das deutsche Volk den Juden die »Berechtigung und die Fähigkeit dazu« abspreche.

Nur eine Woche später meldete sich Brann erneut in Nürnberg; eine mögliche zwischenzeitliche Antwort Freudenthals ist nicht überliefert. Brann hatte sich unterdessen mit dem Textilfabrikanten Max Pinkus aus Neustadt in Oberschlesien besprochen, der selbst Sammler war, als Mäzen wirkte und später, 1928, den Verein Jüdisches Museum Breslau mitbegründete. Pinkus – ebenfalls CV-Mitglied – unterstütze die Idee der Nürnberger, folgte jedoch Branns Kritik an dem Wortlaut des Aufrufs. Deshalb teilte Brann Freudenthal nun mit: »Aber er [Pinkus] macht einen ganz praktischen Vorschlag. Man setzt statt dtsch. ›Volksfamilie‹ ›deutsches Vaterland‹. Dann ist alles erledigt.« Dieser Kompromissformel, die die jüdische »Zugehörigkeit zum deutschen Vaterlande« unterstrichen hätte, wie es im Brief weiter heißt, konnte Brann sich guten Gewissens anschließen.

Beide Bezeichnungen – Volksfamilie wie auch Vaterland – sind dem Feld der Verwandtschaftsbeziehungen entlehnt, gehen aber mit recht unterschiedlichen Vorstellungen einher. Für Markus Brann mochte ausschlaggebend sein, dass sich mit dem Begriff »Familie« eine mitunter erzwungene Ähnlichkeit verbindet, die dem eher politisch konnotierten Begriff »Vaterland« fehlt, der eine staatsbürgerliche Zugehörigkeit verspricht, mit der gleichwohl ein Recht auf weitgehende Verschiedenheit einhergeht. Auch eine Antwort Freudenthals auf das zweite Schreiben Branns ist nicht bekannt. Am 24. Januar 1913 wurde der Gründungsaufruf schließlich in der Allgemeinen Zeitung des Judentums abgedruckt. Brann fehlte unter den Unterzeichnern. Eine Änderung der beanstandeten Formulierung blieb aus.

Marcel Müller ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am SAW-Projekt »Europäische Traditionen – Enzyklopädie jüdischer Kulturen«. Er hat eine von Christian Wiese und Daniel Ristau herausgegebene Edition mit ausgewählten Briefen Markus Branns redaktionell betreut. Der im Dezember 2023 erschienene Band ist kostenfrei im Open Access auf der Verlagswebsite verfügbar | mueller(at)dubnow.de.

Das Thema wird auch im Zusammenhang einer monografischen Studie zu Max Pinkus und der Geschichte seiner »Schlesierbücherei« sowie seiner kunsthandwerklichen Sammlung am Dubnow-Institut von Judith Siepmann bearbeitet.

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