Im Jahr 1986 besuchte die Westberliner Historikerin Mechthild Günther die historische Altstadt von Halberstadt. Aus der Nähe der im Harzvorland gelegenen Kreisstadt stammend, war Günther als junge Erwachsene für ihr Studium der Geschichte an die Humboldt-Universität in Ostberlin gezogen. Mit dem Vorwurf, staatsfeindliche Akte begangen zu haben, war sie 1972 zwangsexmatrikuliert und dann verhaftet worden, um wenig später im Rahmen eines Häftlingsfreikaufs nach Westberlin überzusiedeln. Der Besuch in Halberstadt war ihre erste Reise in die DDR seit ihrer Aussiedlung und diente primär dem Wiedersehen mit Verwandten; zugleich hatte sie die Stadt in Augenschein nehmen wollen, über die sie während ihrer Zeit im Westen erfahren hatte, dass sie einst ein bedeutendes Zentrum jüdischen Lebens in Mitteldeutschland gewesen war – ein ihr zuvor unbekannter Fakt.
Was Günther indes vor Ort zu Gesicht bekam, verschlug ihr die Sprache. Wie auf Fotografien, die sie während ihres Aufenthalts anfertigte, zu erkennen ist, waren Teile der historischen Unterstadt, die einst das Zentrum des jüdischen Halberstadt gebildet hatten, dem Verfall preisgegeben, zum Abriss vorbereitet oder bereits abgerissen worden; den Seidenbeutel, eine Gasse im Herzen des ehemaligen jüdischen Viertels, hatte man zum Schutz vor einstürzenden Fassaden gar von beiden Seiten mit einer provisorischen Mauer verschlossen. Vormalig im Besitz der Jüdischen Gemeinde befindliche Gebäude wie die Klaussynagoge im Rosenwinkel 18 wurden offenbar teils gewerblich und teils privat genutzt; das in einem Hinterhof zwischen Baken- und Judenstraße gelegene Grundstück der Barocksynagoge, die 1939 auf Druck der Nationalsozialisten hatte abgetragen werden müssen, war verwildert. Bis auf ein unscheinbares, 1958 auf private Initiative hin angebrachtes Holzschild in der Bakenstraße 56, das auf den ehemaligen Standort der Synagoge verwies, erinnerte in der Altstadt nichts mehr an die bis ins 13. Jahrhundert zurückreichende Geschichte der Halberstädter Juden. Und schlimmer: Es war abzusehen, dass von den vorhandenen Resten – würde dem Verfall kein Einhalt geboten – bald gar nichts mehr übrig sein würde.