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Blog der Doktorandinnen und
Doktoranden am Dubnow-Institut

Unentbehrliche »Grundpfeiler«

Die vergessene zweite Reihe zionistischer Funktionäre

von

Am 19. Juli 1963 erschien ein Nachruf auf den zionistischen Funktionär Martin Rosenblüth. Die auf Deutsch verfasste Würdigung nahm eine Seite im Mitteilungsblatt, der Wochenzeitung des Irgun Olej Merkas Europa (Vereinigung der Israelis mitteleuropäischer Herkunft) in Israel, ein und erreichte insbesondere jene, die in den 1930er und 1940er Jahren aus Deutschland nach Palästina eingewandert waren. Verfasser war Siegfried Moses, damals Präsident der Vereinigung und von 1949 bis 1961 Chef des israelischen Rechnungshofs. Auch der Verstorbene hatte zeitlebens bedeutende Funktionen innegehabt: Er war Sekretär im Büro der Zionistischen Weltorganisation gewesen; Geschäftsführer des Keren Hayesod, über den seit seiner Gründung 1920 weltweit Spenden für die jüdische Heimstatt gesammelt werden; Leiter des Zentralbüros für die Ansiedlung deutscher Juden – der sogenannten »deutschen Abteilung« der Jewish Agency – und zuletzt Vertreter des israelischen Finanzministeriums in den Vereinigten Staaten. Seine Ämter waren primär von Administration, Organisation und Finanzwesen geprägt gewesen, sodass Moses bilanzierte: »Wenn der zionistische Beobachter die Arbeitsgebiete betrachtete, denen Martin Rosenblüth jeweils sich widmete, so fand er ihn selten an der Aussenfassade, aber immer als einen unentbehrlichen Grundpfeiler des Werkes.«

Siegfried Moses, Zum Gedenken. Martin Rosenblüth, in: Mitteilungsblatt des Irgun Olej Merkas Europa, Nr. 29, 19. Juli 1963, 5. Quelle: Leo Baeck Jerusalem Archive, LBIJER 560.
Siegfried Moses, Zum Gedenken. Martin Rosenblüth, in: Mitteilungsblatt des Irgun Olej Merkas Europa, Nr. 29, 19. Juli 1963, 5. Quelle: Leo Baeck Jerusalem Archive, LBIJER 560.

Dieses Charakteristikum – unentbehrlich für die Verwirklichung zionistischer Ideen und Ziele, aber öffentlich kaum sichtbar zu sein – teilte Rosenblüth mit einer Reihe anderer deutscher Zionisten wie Moses, Georg Landauer, David Werner Senator, Werner Feilchenfeld, Salomon Adler‑Rudel und Arthur Ruppin. Sie alle bildeten in den zionistischen Organisationen die »zweite Reihe«: Rosenblüth und seine Mitstreiter rangen in der Zwischenkriegszeit mit der britischen Mandatsmacht um die Zahl der Palästina-Zertifikate, die für eine legale Einwanderung nötig waren, sie organisierten und regulierten den Prozess der Migration mittels der Palästina-Ämter, warben Finanzmittel ein und verteilten diese unter strategischen Gesichtspunkten. Mit diesen Tätigkeiten füllten sie die auf diplomatischer Ebene erreichten Handlungsspielräume mit Leben und prägten die Entwicklung des Jischuw entscheidend mit. Sie waren die notwendigen Stützen, die die Gründung Israels überhaupt erst möglich machten.

Allerdings haftet dem Bild der Stütze etwas Statisches und Passives an; es ist Ausdruck des Gewordenen, keine Beschreibung des konfliktreichen und herausfordernden Prozesses zur Erreichung ihrer Ziele. Diese Funktionäre waren keine starren Bürokraten, vielmehr verwies Moses in seinem Nachruf darauf, dass gerade die gegenteiligen Eigenschaften und Fähigkeiten vonnöten gewesen waren: Verantwortungsbereitschaft und Zuverlässigkeit, Sachkenntnis und strategisches Gespür, Kreativität und selbstständiges Handeln. Moses erwähnte auch die »Kunst psychologisch durchdachten Verhandelns«, die besonders Rosenblüth und Adler-Rudel auszeichnete. Ihre planerische Arbeit am Schreibtisch mit Kugelschreiber und Mimeograf, die über Tage und Nächte geführten Verhandlungen in verrauchten Hinterzimmern, die Vermittlung der getroffenen Entscheidungen mittels unzähliger Briefe und Telegramme sowie deren praktische Umsetzung kommt besser in einer dynamischen Trope aus der kritischsten Epoche ihres Schaffens zum Ausdruck, die zugleich ihre Bedeutung unterstreicht: Ihr Engagement ist »eher mit der Arbeit des Maschinisten im Kesselraum eines Schiffs zu vergleichen, der dafür sorgt, dass die Maschinen gut geölt sind, damit das Schiff durch die stürmische See fahren kann«. Mit dieser Formulierung beschrieb Mitte der 1930er Jahre ein leitender Funktionär der Hebrew Immigrant Aid Society, die die Einwanderung von Jüdinnen und Juden in die Vereinigten Staaten unterstützt, die Herausforderungen seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter angesichts der antisemitischen Verfolgungen im nationalsozialistischen Deutschland. Die in diesem Bild zum Ausdruck kommende Leistung, die Institution nicht nur funktionstüchtig zu halten, sondern trotz äußerst widriger Umstände immer wieder aufs Neue Strategien zur Erfüllung der selbst gesteckten Ziele zu entwickeln, lässt sich auch auf das Wirken Rosenblüths und seiner Kollegen in dieser Zeit verallgemeinern.

Nach seiner Flucht 1933 nach London setzte Rosenblüth sein Engagement in der Jewish Agency fort. Als Leiter des Zentralbüros für die Einwanderung deutscher Jüdinnen und Juden nach Palästina sah er sich mit zahlreichen Dilemmas konfrontiert: Die Zahl derjenigen, die Deutschland verlassen wollten, nahm spätestens nach der Annexion Österreichs im März 1938 dramatisch zu, aber die legalen Einwanderungsmöglichkeiten für Jüdinnen und Juden nach Palästina waren durch die britische Mandatsmacht eingeschränkt. Doch nicht nur dieser Umstand, sondern auch ein spezifisches Anforderungsprofil der zionistischen Organisationen an die Einwanderinnen und Einwanderer zwang Rosenblüth zu gravierenden Entscheidungen: Wer sollte eines der begehrten Zertifikate erhalten und wer konnte gleichzeitig den Prozess des nation building vermeintlich adäquat befördern? Seine Arbeit war weniger philanthropisch als politisch motiviert und so priorisierte er meist den Aufbau und die Stärkung des Jischuw vor der Hilfe für die Verfolgten.

Rosenblüths Erwartungen an die Konferenz von Évian, auf der im Juli 1938 Regierungsvertreter aus 32 Staaten unter Beteiligung jüdischer Organisationen über die Emigration der deutschen und österreichischen Judenheiten verhandelten, waren von dieser Position bestimmt: Anders als er es in seiner Autobiografie von 1961 darlegte, war es den zionistischen Vertretern in Évian nicht um eine sofortige Evakuierung der Jüdinnen und Juden im deutschen Herrschaftsbereich unter Aufwendung aller möglichen Ressourcen gegangen. Im Unwissen der späteren Katastrophe waren die Anforderungen in Palästina prioritär eingeschätzt worden. Nichtsdestotrotz ließen Ruppin, Feilchenfeld und Rosenblüth in den Verhandlungen mit britischen Regierungsstellen nichts unversucht, die Unterstützung für die in Deutschland verfolgten Jüdinnen und Juden mit der Entwicklung des Jischuw zu verknüpfen. Damit blieben sie aber weitgehend erfolglos: Neben den britischen Einwanderungsbeschränkungen, die dem sich radikalisierenden Konflikt mit der arabischen Nationalbewegung geschuldet waren, verunmöglichte nicht zuletzt die prekäre Wirtschaftslage des Jischuw Ende der 1930er Jahre eine jüdische Masseneinwanderung aus Europa. Trotz aller Frustrationen und Widrigkeiten war für Rosenblüth ein Rückzug aus diesem Spannungsfeld keine Option. Er war nicht nur von der Sinnhaftigkeit seines Handelns überzeugt, sondern suchte auch in seinen übrigen Tätigkeiten das in ihn gesetzte Vertrauen zu rechtfertigen, wie Moses sich erinnerte.

Darüber hinaus waren sich Rosenblüth und seine Kollegen ihrer Leistungen durchaus bewusst. Moses schloss den Nachruf daher in der Überzeugung: »Der Dienst an der Bewegung und am Staat, den er zu seiner Lebensaufgabe gemacht hat, […] sichern Martin Rosenblüth das Gedenken eines weiten Kreises.« Ob er und seine Weggefährten je über ihr enges Umfeld hinaus Bekanntheit erlangt haben, ist allerdings fraglich. In der historischen Erinnerung werden sie oftmals von Protagonisten wie Chaim Weizmann und David Ben‑Gurion verdeckt, die schon aufgrund ihrer Funktion, aber mehr noch durch ihr öffentliches Handeln bekannt wurden. Nicht selten verkündeten diese aber Ergebnisse, die die Maschinisten im Kesselraum erst möglich gemacht hatten.

Martin Jost is a research associate at the Academy Project »European Traditions – Encyclopedia of Jewish Cultures«, a research project of the Saxon Academy of Sciences and Humanities in Leipzig, and personal assistant to the directorate at the Leibniz Institute for Jewish History and Culture – Simon Dubnow. There, he is finishing his doctorate on the history and memory of the Évian Conference under the supervision of Yfaat Weiss. The protagonists of the »second row« (»zweite Reihe«) are a continuous topic of joint discussion | jost(at)dubnow.de.

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