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Blog der Doktorandinnen und
Doktoranden am Dubnow-Institut

Eingeschriebene Erfahrung

Moishe Postones Dissertation zwischen Deutschland und Amerika

von

Im Nachlass des Sozialtheoretikers Moishe Postone (1942–2018) befindet sich ein Papierstapel mit einem etwas mehr als 400-seitigen mehrheitlich handschriftlich verfassten Text in englischer Sprache. Er ist unsortiert, und doch gibt die Nummerierung der Seiten Aufschluss über seinen zusammenhängenden Charakter. Dieser Stapel bildet, so zeigt sich bei genauer Betrachtung, einen offenkundig längeren Denkprozess seines Verfassers ab. Auf nahezu allen Seiten finden sich Streichungen, Einschübe und Ersetzungen. Um welches Manuskript es sich handelt, wird aus den ersten beiden Seiten klar ersichtlich: Ein mehrgliedriges Inhaltsverzeichnis kündigt Postones Dissertationsschrift an. Sie wurde 1983 in einer maschinenschriftlichen Fassung unter dem Titel »The Present as Necessity. Towards a Reinterpretation of Marx’s Critique of Labor and Time« an der Frankfurter Universität im Fachbereich Gesellschaftswissenschaften eingereicht und kurze Zeit später mit Auszeichnung verteidigt. Es sollte jedoch noch ein Jahrzehnt dauern, bis die Arbeit unter dem veränderten Titel Time, Labor and Social Domination. A Reinterpretation of Marx’s Critical Theory bei Cambridge University Press 1993 erschien. Die gedruckte Fassung unterschied sich nicht nur formal und stilistisch. Der Autor trug in der sich lange hinziehenden Überarbeitungszeit auch den historischen Entwicklungen der Zeitspanne zwischen 1989 und 1991 Rechnung, indem er seine Darstellung um ein Kapitel erweiterte. Während über das Buch inzwischen eine eigene historisch relevante und wissenschaftsgeschichtlich bedeutende Publikations- und Rezeptionsgeschichte von Moishe Postone erzählt werden kann, konserviert das handschriftliche Manuskript noch eine andere Geschichte. Diese Geschichte ist persönlich, aber nicht privat, steht sie doch exemplarisch für die Verschränkung von Werk und individueller Erfahrung. Im Nachlassmanuskript, so ließe sich herausstellen, materialisieren sich diese beiden Seiten der Erkenntnisbildung auf geradezu idealtypische Weise.

Das von Hand geschriebene Dissertationsmanuskript Moishe Postones entstand ab Ende der 1970er Jahre. Quelle: University of Chicago Library, The Hanna Holborn Gray Special Collections Research Center, Moishe Postone Papers, Box 16, 2018-250, 2019-011, Folder Dissertation.
Das von Hand geschriebene Dissertationsmanuskript Moishe Postones entstand ab Ende der 1970er Jahre. Quelle: University of Chicago Library, The Hanna Holborn Gray Special Collections Research Center, Moishe Postone Papers, Box 16, 2018-250, 2019-011, Folder Dissertation.
Das von Hand geschriebene Dissertationsmanuskript Moishe Postones entstand ab Ende der 1970er Jahre. Quelle: University of Chicago Library, The Hanna Holborn Gray Special Collections Research Center, Moishe Postone Papers, Box 16, 2018-250, 2019-011, Folder Dissertation.
Das von Hand geschriebene Dissertationsmanuskript Moishe Postones entstand ab Ende der 1970er Jahre. Quelle: University of Chicago Library, The Hanna Holborn Gray Special Collections Research Center, Moishe Postone Papers, Box 16, 2018-250, 2019-011, Folder Dissertation.
Das von Hand geschriebene Dissertationsmanuskript Moishe Postones entstand ab Ende der 1970er Jahre. Quelle: University of Chicago Library, The Hanna Holborn Gray Special Collections Research Center, Moishe Postone Papers, Box 16, 2018-250, 2019-011, Folder Dissertation.
Das von Hand geschriebene Dissertationsmanuskript Moishe Postones entstand ab Ende der 1970er Jahre. Quelle: University of Chicago Library, The Hanna Holborn Gray Special Collections Research Center, Moishe Postone Papers, Box 16, 2018-250, 2019-011, Folder Dissertation.
Das von Hand geschriebene Dissertationsmanuskript Moishe Postones entstand ab Ende der 1970er Jahre. Quelle: University of Chicago Library, The Hanna Holborn Gray Special Collections Research Center, Moishe Postone Papers, Box 16, 2018-250, 2019-011, Folder Dissertation.
Das von Hand geschriebene Dissertationsmanuskript Moishe Postones entstand ab Ende der 1970er Jahre. Quelle: University of Chicago Library, The Hanna Holborn Gray Special Collections Research Center, Moishe Postone Papers, Box 16, 2018-250, 2019-011, Folder Dissertation.
Das von Hand geschriebene Dissertationsmanuskript Moishe Postones entstand ab Ende der 1970er Jahre. Quelle: University of Chicago Library, The Hanna Holborn Gray Special Collections Research Center, Moishe Postone Papers, Box 16, 2018-250, 2019-011, Folder Dissertation.
Das von Hand geschriebene Dissertationsmanuskript Moishe Postones entstand ab Ende der 1970er Jahre. Quelle: University of Chicago Library, The Hanna Holborn Gray Special Collections Research Center, Moishe Postone Papers, Box 16, 2018-250, 2019-011, Folder Dissertation.

Die Entstehungsgeschichte der Arbeit reicht zurück bis in die frühen 1970er Jahre der Bundesrepublik. 1973 schrieb sich der damals 31-jährige, aus Chicago kommende kanadische Staatsbürger Morris Postone an der Frankfurter Universität als Doktorand ein, um dort das Werk von Karl Marx zu studieren. Sein Doktorvater Gerhard Meyer (1903–1973), ein Exilant aus Deutschland, hatte seinem Schüler diesen Aufenthalt in der Fremde empfohlen: Er solle die deutsche Sprache erlernen, um Marxʼ Schriften in der Originalsprache lesen und verstehen zu können. Darüber hinaus schien es Meyer um das Niveau der akademischen Debatten um Marx in der Bundesrepublik besser bestellt zu sein als in den USA. Zwar war Postone sowohl mit der marxschen Theorie als auch mit deren Rezeption gut vertraut, immerhin hatte er in Chicago bei Hannah Arendt Kurse über Hegel und Marx besucht. Zudem hatte er sich in der amerikanischen Studentenbewegung engagiert. Trotzdem folgte er dem Rat seines Lehrers. Im Koffer nach Deutschland trug er bereits eine erste noch tentative Skizze seines wissenschaftlichen Vorhabens mit sich: Postone wollte sich mit dem Spätwerk von Karl Marx, genauer mit dessen Schrift Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie von 1857/58, befassen. Die Lektüre dieses Buchs hatte ihn gleichermaßen fasziniert wie irritiert. Die von Marx entwickelten zentralen Kategorien wie Arbeit, Kapital und Markt seien im Marxismus nicht angemessen verstanden worden. Marx habe die Kategorien als spezifische historische Ausdrücke gesellschaftlicher Formationen betrachtet, also gerade nicht als überhistorische Determinanten, so Postones Ausgangshypothese, an der er während des gesamten Prozesses seiner Forschungen festhielt. Mit dieser in ersten Ansätzen schon ausgeprägten kritischen Distanz zum – wie er es nannte – »traditionellen Marxismus« führte sich der Student aus Chicago in den bundesrepublikanischen Diskurs ein. Dabei fiel die Entscheidung, nach Deutschland zu gehen, Moishe Postone nicht leicht. Der Großteil seiner Familie war von den Nazis ermordet worden. Sein Vater, ein Rabbiner, den letztlich ein kanadisches Visum rettete, hatte seine litauische Heimatstadt kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verlassen und damit auf denkbar glückliche Weise auch der Vernichtung durch die Deutschen entkommen können. Jahre später gestand Postone einigen seiner engeren Freunde, es durchaus bedauert zu haben, dass Marx »nicht französisch« geschrieben habe.

Moishe Postone, dessen Schattenriss einem griechischen Philosophen ähnelt. Das Bild ist undatiert, doch wahrscheinlich zeigt es ihn als Endzwanziger und damit kurz vor Aufnahme seines Dissertationsprojekts in Chicago. Quelle: University of Chicago Library, The Hanna Holborn Gray Special Collections Research Center, Moishe Postone Papers, Box 16, 2018-250, 2019-011, Folder ML-MISC Caros + Correspondences.
Moishe Postone, dessen Schattenriss einem griechischen Philosophen ähnelt. Das Bild ist undatiert, doch wahrscheinlich zeigt es ihn als Endzwanziger und damit kurz vor Aufnahme seines Dissertationsprojekts in Chicago. Quelle: University of Chicago Library, The Hanna Holborn Gray Special Collections Research Center, Moishe Postone Papers, Box 16, 2018-250, 2019-011, Folder ML-MISC Caros + Correspondences.

Nach einem zehnmonatigen Sprachkurs in München gleich zu Beginn seines Aufenthalts in den Jahren 1972/73 wurde Postone vom jüdischen Studentenverein in eine Wohngemeinschaft nach Frankfurt vermittelt. »[F]rankfurt habe ich gewählt«, legte er in einem wohl 1978 oder 1979 stattgefundenen Gespräch dar, »weil ich gedacht habe, es ist näher am westen, [ich] hatte die vorstellung, ich würde jedes wochenende nach westen abhauen, nach frankreich, holland«. Postone blieb aber in Frankfurt. Und er blieb auch, nachdem Gerhard Meyer 1973 in Chicago gestorben war. In dem Frankfurter Politikwissenschaftler und Marx-Experten Iring Fetscher fand er einen zweiten Mentor, der das Thema und die Grundfragen des begonnenen Vorhabens weiter zu begleiten bereit war. Postones Entscheidung für Frankfurt lag nicht zuletzt daran, dass er sich in ein linkspolitisches akademisches Milieu integriert hatte, das zudem jüdisch geprägt war. Jahrelang wohnte er in einer Wohngemeinschaft mit dem Mathematikstudenten Amichai Dreyfuss sowie für kurze Zeit auch mit Dan Diner und Cilly Kugelmann zusammen. Diese WG im »berüchtigten« Kettenhofweg im studentenbewegten Frankfurter Westend – ehedem auch die Wohnstraße von Theodor W. Adorno –, hatte sich mit Postones Einzug in einen bekannten Treffpunkt verwandelt, an dem intensiv diskutiert wurde und viele persönliche Bekanntschaften zwischen Amerikanern, Deutschen und Juden ihren Ausgang nahmen.

Daneben war es der akademische Zusammenhang – Seminare, Kolloquien und Diskussionen –, der Postones wissenschaftliche und politische Interessen bestimmte und in den er seine Stimme immer selbstbewusster einbrachte. So veröffentlichte er gleich mehrere Beiträge zu den aktuellen krisentheoretischen, marxistisch bestimmten Debatten über das Verhältnis von Politik und Ökonomie. Mit theoretischem Scharfsinn machte Postone in seinen Artikeln etwa Friedrich Pollocks Thesen zum Staatskapitalismus sowie Max Horkheimers geschichtsphilosophischen Pessimismus der 1940er Jahre zum Thema und verwies hier, in politischen Interventionen wie wissenschaftshistorischen Revisionen, auf die Erkenntnisgrenzen auch dieser »traditionellen Marxisten«: Indem Pollock und Horkheimer in ihren Analysen des Nationalsozialismus von den Marktverhältnissen und den Veränderungen in Produktion und Zirkulation ausgegangen seien, war es ihnen – so Postone – nicht möglich, die neu entstandenen Widersprüche zu erklären, wie sie etwa in der Aufhebung von Markt und Privateigentum unter nach wie vor bestehenden kapitalistischen Bedingungen lagen.

Mit diesem Ansatz bewegte sich Postones Argumentation weg von einer Kritik am Markt und seinen (Verteilungs-)Mechanismen hin zu einer kritischen Sicht auf die Kategorie der Arbeit selbst, die er in Beziehung zu den Faktoren »Zeit« und »Wert« setzte und damit jenseits eines schematischen Dualismus von Kapitalismus und Sozialismus analysierte. Vor allem aber verstand Postone diese Kategorien nicht ökonomisch, sondern – vermittelt über Marx – als Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse, die in ihrer historischen Besonderheit zu bestimmen seien. So seien sie durch einen »Doppelcharakter« gekennzeichnet: Sie hätten eine abstrakte (zum Beispiel Geld) wie auch eine konkrete, oftmals verdinglichte Erscheinungsform (zum Beispiel Ware). Diese theoretische Erkenntnis schärfte schließlich auch Postones Analyse des Nationalsozialismus, in deren Zentrum er den eliminatorischen Antisemitismus rückte. So argumentierte er in seinem zuerst 1979 erschienenen, später oft nachgedruckten und berühmt gewordenen Artikel Nationalsozialismus und Antisemitismus, dass sich der Antikapitalismus im Nationalsozialismus, die beanspruchte »Revolte«, nicht gegen das Wesen des Kapitalismus selbst gerichtet habe, sondern gegen seine abstrakte Erscheinungsform. Während das Kapital und die industrielle Produktion wie auch die moderne Technologie konkrete Erscheinungen gesellschaftlicher Beziehungen waren und im Nationalsozialismus hypostasiert, naturalisiert und fetischisiert wurden, so Postone, sollte das »wurzellose«, »parasitäre Finanzkapital«, das mit den Juden gleichgesetzt wurde, als deren abstrakte Dimension vernichtet werden.

Moishe Postone auf dem Balkon seiner Chicagoer Wohnung. Das Foto ist undatiert, dürfte aber 1985 aufgenommen worden sein, nach der Fertigstellung seiner Dissertation und – damit verbunden – seiner Rückkehr in die USA. Quelle: University of Chicago Library, The Hanna Holborn Gray Special Collections Research Center, Moishe Postone Papers, Box 7, 2018-250, 2019-011, Folder Personal Letters.
Moishe Postone auf dem Balkon seiner Chicagoer Wohnung. Das Foto ist undatiert, dürfte aber 1985 aufgenommen worden sein, nach der Fertigstellung seiner Dissertation und – damit verbunden – seiner Rückkehr in die USA. Quelle: University of Chicago Library, The Hanna Holborn Gray Special Collections Research Center, Moishe Postone Papers, Box 7, 2018-250, 2019-011, Folder Personal Letters.

Nach der Fertigstellung der Dissertation bemühte sich Postone vergebens darum, einen deutschen Verlag für die Drucklegung zu finden. Immer wieder betonte er, wie die Korrespondenzen aus dieser Zeit belegen, »I think it belongs in the discussion in the BRD«. Damit meinte Postone aber nicht nur, dass seine Arbeit als ein Beitrag zu den allgemeinen bundesrepublikanischen Debatten verstanden werden müsse. Vor allem wollte er zum Ausdruck bringen, dass sie eine deutsche Erfahrung konserviere – eine Erfahrung, die Postones reflexive Erkenntnis mit einschloss. Als er sein Manuskript einreichte, bestand er auf eine kleine, für ihn aber bedeutende Änderung: Er wollte die Arbeit nicht mehr – auch nicht formell – unter seinem die Herkunft neutralisierenden Vornamen »Morris« einreichen. Entschieden präferierte er seinen hebraisierten Rufnamen »Moishe«. Dieser Name, Moishe Postone, stand für zweierlei: für intellektuelle Teilhabe an wie kritische Distanz zu den deutschen Debatten der 1970er Jahre. Beides materialisierte sich in seiner handschriftlich verfassten Dissertation.

Zarin Aschrafi is a research associate at Leipzig University and an affiliated researcher of the Dubnow Institute, where she was a PhD Candidate from October 2016 to September 2022. Her research focuses on the history of Jews in Germany. She is currently writing a collective biography of a group of Jewish intellectuals whose members belonged to the so-called Second Generation of Jews in Postwar Germany, and who published the Journal »Babylon. Beiträge zur Jüdischen Gegenwart« in 1986. Her project has been supervised by Yfaat Weiss since 2018 | aschrafi(at)dubnow.de.

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