Am 13. Oktober 1944 versammelte sich eine kleine Gruppe von Intellektuellen, Politikern und religiösen Würdenträgern in der sephardischen Synagoge Sha’ar Hashamayim im Zentrum Kairos. Anlass war die Beerdigung des jungen Universitätsdozenten Paul Kraus, der sich, gerade einmal 39-jährig, am Vortag das Leben genommen hatte. Wenige Stunden zuvor war er von Taha Hussein (1889–1973), dem scheidenden Dekan der Philosophischen Fakultät der Kairoer Universität, über seine Entlassung aus dem ägyptischen Hochschuldienst unterrichtet worden. Aufgrund einer Verschiebung im komplizierten politischen Machtgefüge Ägyptens zwischen dem Königspalast, der Regierung und den britischen Machthabern im Land hatte König Faruq I. im Herbst 1944 den Handlungsspielraum erkannt und am 8. Oktober die ihm unliebsame Wafd-Regierung unter ihrem Vorsitzenden Mustafa an-Nahhas kurzerhand abgesetzt. Im Zuge dieses Machtwechsels musste auch der dem Wafd nahestehende Taha Hussein seinen Posten räumen, sodass Paul Kraus seinen wichtigsten Fürsprecher verlor. In den Augen der neuen Regierung wurde Kraus unhaltbar. Der Verlust der akademischen Position hatte dem jüdischen Emigranten die Grundlage seiner Existenz geraubt. In der ohnehin aufgewühlten Zeit des Exils, in der zudem seine ambitionierte Forschung zur Metrik der semitischen Sprachen in der Jerusalemer Wissenschaftsgemeinde an der Hebräischen Universität in etlichen Gastvorträgen im Frühjahr und Sommer 1943 keinen nennenswerten Anklang gefunden hatte, steigerte sich mit der Entlassung seine Angst vor dem endgültigen Verlust der wissenschaftlichen Reputation zu dieser Verzweiflungstat. Heute, 75 Jahre nach seinem tragischen Freitod, erinnert in der ägyptischen Hauptstadt nichts mehr an den gebürtigen Prager Orientalisten und Islamwissenschaftler. Dies mag dadurch erklärbar sein, dass dem jungen Orientwissenschaftler seine eigentliche Karriere erst noch bevorgestanden hätte. Doch scheint hierin auch ein Akt des Vergessens auf, insofern Kraus bereits zu Lebzeiten kein Unbekannter war. Seit seiner Ankunft in der ägyptischen Emigration im Herbst 1936 hatte er äußerst regen Anteil an den intellektuellen Debatten seiner Zeit genommen und sich in zahlreichen Vorträgen, Hörfunkbeiträgen und Zeitschriftenartikeln öffentlich geäußert. In den 1930er und frühen 1940er Jahren hatte Kraus sogar über die Grenzen Ägyptens hinaus in Syrien, dem Libanon und Palästina in gelehrten Kreisen hohes Ansehen erworben und war zu gewisser akademischer Bekanntheit gelangt.
Begibt man sich heute auf die Suche nach seiner letzten Ruhestätte auf dem acht Kilometer südlich der Kairoer Innenstadt gelegenen jüdischen Friedhof Basatin, findet man ein vergessenes Areal vor, das – über Jahrzehnte der Verwahrlosung und Plünderung preisgegeben – nur noch wenig von den ehemaligen jüdischen Einwohnern Kairos zu erzählen vermag. Umso mehr lohnt der Blick in die Archive und die dort verwahrten schriftlichen Zeitdokumente, wie etwa die französischsprachige Wochenzeitung La Tribune Juive. Im Oktober 1944 berichtete sie auch über die Beerdigung Paul Kraus’ und gewährt sogar einen Einblick in die Zusammensetzung der Trauergemeinde, die exemplarisch für die heterogene intellektuelle und politische Landschaft Ägyptens während jener Krisen- und Kriegsjahre ist. Erwähnt werden der Literaturwissenschaftler Taha Hussein, der Semitist Murad Kamil (1907–1975) und Rabbiner Nessim Ohanna (1882–1962) sowie der als Hauptmann in der britischen Armee dienende, 1920 nach Palästina ausgewanderte Adolf Reifenberg (1899–1953), der Leiter der Jewish Agency Moshe Shertok (später: Sharet) (1894–1965) und der französisch-ukrainische Archäologe Roman Ghirshman (1895–1979). Neben ägyptischen Intellektuellen, die eine Modernisierung der Gesellschaft anstrebten, fanden sich jüdische Emigranten aus Europa, Repräsentanten der ägyptisch-jüdischen Gemeinde Kairos, zionistische Emissäre und palästinische Juden unter den Trauernden.
Dieses Zusammentreffen so verschiedener Akteure mit ihren unterschiedlichen Interessen erinnert daran, dass Kairo seit Eröffnung des Sueskanals 1869 in vielerlei Hinsicht ein bedeutender Ort jüdischen Lebens im Nahen Osten war. Hier gab es Synagogen, jüdische Schulen, ein eigenes Krankenhaus und etliche jüdische Zeitungen. Und hier bot sich für einen historischen Moment ein Raum für Austausch und Verständigung zwischen den verschiedenen Judenheiten und der sie umgebenden arabischen Welt. Zu einer Zeit, da sich die jüdische Bevölkerung Europas einer Politik der Entrechtung, Verfolgung und Vertreibung gegenübersah, hatte sich Ägypten zu einem Ort des Dialogs entwickelt und vertriebenen und verfolgten Juden Zuflucht gegeben. Eindrückliches Zeugnis dieser herausgehobenen Stellung des Landes und seiner bisher wenig beachteten Bedeutung für die jüdische Emigration ist ein Taschenkalender aus dem Jahre 1944, der sich im Nachlass von Paul Kraus erhalten hat.