Mit neun Gepäckstücken wanderte die Familie der russisch-jüdischen Schriftstellerin Lena Gorelik im Mai 1992 aus dem kurz zuvor in Sankt Petersburg umbenannten Leningrad nach Deutschland aus. Unter den wenigen Gegenständen, die die Eltern der elfjährigen Lena, ihr älterer Bruder und ihre Großmutter mitnehmen konnten, war auch ein Stapel neuer, leerer Schulhefte.
Das russische Wort »tetrad’« (»тетрадь«) für »Heft« bedeutet eigentlich »Viertel« (eines ganzen Blattes); es stammt aus dem Altgriechischen und bezeichnet einen unverzichtbaren, wenn auch visuell unscheinbaren Gegenstand des sowjetischen Bildungssystems. Seit den Sechzigerjahren bis zum Zerfall der Sowjetunion gehörten diese meist blassgrünen, manchmal auch gelben oder rosafarbenen Hefte, die zwölf oder achtzehn Seiten umfassen, zu den täglichen Wegbegleitern jedes Schulkindes. Alle Kinder benutzten die identischen Hefte, die es kariert oder liniert gab. Auf der Vorderseite stand nur »tetrad’«; auf der Rückseite waren mal Multiplikationstabellen, mal die Nationalhymne der UdSSR oder die Regeln für die »Oktoberkinder« (»Oktjabrjata«), später für die Pioniere aufgedruckt. Ich vermute, dass solche Hefte in vielen Auswandererfamilien zu Erinnerungsstücken wurden. Als Reminiszenz an die Schulzeit der Kinder verkörperten sie ein Stück Alltag der ehemaligen Sowjetunion. So war es auch bei meiner Familie. Diese Hefte blieben oft über Jahre hinaus eine der wenigen materiellen Erinnerungen an die Schulzeit in der UdSSR.
Was packt man für das neue Leben ein, das bereits mit der Ausreise per Zug beginnt? Was wird mitgenommen, was zurückgelassen? Wie erzählt man die Geschichte dieser schweren Entscheidungen? In welcher poetischen Sprache verdichtet sich die Immigration im Rückblick? Diese Fragen stehen im Zentrum des autobiografischen Romans Wer wir sind von Lena Gorelik aus dem Jahr 2021. Hier entwickelt die Autorin eine Sprache, die den Gegenständen der Einwanderung und den mit ihr verbunden Verlusten zugleich gerecht zu werden versucht. Im Roman gehört das sowjetische Schulheft neben dem Koffer zu einer ganzen Reihe von Metaphern der Immigration.
Die Schulhefte, die die Eltern von Lena Gorelik einpacken, sind jedoch keine bereits verwendeten. Anders als der Koffer scheinen sie zunächst auch nicht Teil des »emotionalen Gepäcks« im Sinne des schwedischen Ethnologen Orvar Löfgren (147) zu sein; doch bekommen sie im Roman einen bedeutsamen Platz. Vor der Abreise heißt es etwa, jemand habe der Familie gesagt, dass Schulhefte in Deutschland teuer seien: »Wir wussten gar nichts über den Alltag in Deutschland« (209), so die Erzählerin. So waren die leeren Hefte zunächst lediglich dafür gedacht gewesen, der Tochter in Deutschland nützlich zu sein. Doch fand sie es peinlich, mit diesen blasgrünen und kyrillisch beschrifteten Heften in ihre neue Schule zu gehen. Für ihren ursprünglichen Zweck waren sie somit also nicht zu gebrauchen; doch leer würden sie trotzdem nicht bleiben.
Eines der literarischen Verfahren Goreliks im Roman ist das poetische Spiel mit den semantischen Feldern, aus denen Metaphern entstehen. Denn alle hier beschriebenen Gegenstände führen im Buch ein doppeltes Leben: Sie existieren sowohl als Zeugen alltäglicher Objekte aus der Vergangenheit, deren Gebrauch in der Gegenwart erst noch gefunden werden muss; und stellen zugleich eine »Figura« im Sinne Erich Auerbachs dar, die zu einer Art Vergegenständlichung der Immigration führt. Es genügt daher nicht, diese Gegenstände lediglich als Metaphern für Vergangenes zu deuten, denn im Roman sind sie in erster Linie reale Dinge. Für die Erzählerin ist diese Vergegenständlichung notwendig, um sich an etwas Materiellem festhalten zu können. Immigration heißt: Alles verändert sich, Sprache, Gerüche und auch die Erinnerung.
Diese Schulhefte, mitgenommen, um den Lernprozess eines Mädchens zu dokumentieren, das sich auf die neue deutsche Sprache stürzt, werden schließlich nicht für die Tochter, wohl aber für die Mutter wichtig. Sie ist es, die sie mit Schrift und Zahlen füllt. Vor der Auswanderung war sie Ingenieurin gewesen, die trotz des »fünften Paragrafen« (so wurde in der Umgangssprache die jüdische Nationalität im Pass bezeichnet) zum Studium an der Leningrader Universität zugelassen worden war, das sie mit Auszeichnung abschloss. Nachdem ihr Diplom in Deutschland nicht anerkannt worden war, woraufhin sie ein Jahr als Putzfrau gearbeitet hatte, entscheidet sie sich für eine Umschulung zur Buchhalterin.
Der Roman schildert die taktlose Frage des Lehrers der Mutter, der wissen will, warum sie so viele leere Hefte mitgebracht habe, und macht an dieser Stelle die unterschiedlichen Wahrnehmungen dieser Objekte deutlich. Der Lehrer argumentiert, wenn er selbst seine »Heimat verlassen müsste«, so würde er »wahrscheinlich Fotoalben oder Bücher oder Erinnerungsstücke mitnehmen, aber doch keine leeren Hefte!« (208) Diese Bemerkung zeigt, dass sich sein Blick auf Auswanderung auf symbolische Dinge richtet, die mit dem Aufbewahren der Vergangenheit verbunden sind. Doch »für jedes ausgewählte oder zurückgelassene Objekt«, so schreibt Löfgren, wird immer auch »eine potenzielle Zukunft konstruiert« (149). So betrachtet, bewahrt das »ausgewanderte« Objekt eines Schulhefts eben nicht nur eine Vergangenheit (als Artefakt) auf, sondern es bekommt auch eine Zukunft zugesprochen, mit der es seine eigentliche Funktion erlangen soll. Es enthält schließlich das neu erlernte Wissen einer Frau, die sich einen zweiten Beruf erarbeitet. Das sowjetische Schulheft steht hier also nicht für die Vergangenheit, sondern – gerade umgekehrt – für die materielle Dimension jeder Einwanderung, die sich dem Metaphorisieren verweigert: Das Heft verwandelt sich im Gebrauch aus einem Erinnerungssymbol in ein Dokument der Zukunft.
Im Roman taucht noch ein weiteres blassgrünes Heft auf, das Lena Gorelik bei einer ihrer Reisen nach Russland kauft, denn es ist dort auch noch Jahre nach ihrer Auswanderung erhältlich. Dieses neue Heft ist ebenfalls leer. Es liegt seit Jahren »in der Schublade zwischen den schönen Notizbüchern« (209), die sie zum Schreiben verwendet. Aufbewahrt zwischen deutschen Notizbüchern erinnert es an die entbehrungsreise Zeit vor der Abreise und danach, an den Mut ihrer Mutter bei der Begründung eines neuen Alltags und vielleicht auch an all die Geschichten, die ungeschrieben bleiben werden.
Natasha Gordinsky is a senior lecturer at the Department of Hebrew and Comparative Literature at the University of Haifa. The first meeting with Yfaat Weiss in 2005 at the Dubnow Institute and a poetic conversation about Leah Goldberg’s poems evolved into an ongoing, fruitful dialogue about Jewish literatures and a joint research project whose results will soon be published: »In Their Surroundings. Localizing Modern Jewish Literatures in Eastern Europe,« ed. by Efrat Gal-Ed, Natasha Gordinsky, Sabine Koller, and Yfaat Weiss, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht | ngordinsk@univ.haifa.ac.il
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