Am 30. März 1968 schreibt der Dichter, Bühnenautor und Regisseur Thomas Brasch (1945–2001) aus Westberlin an seinen in Ostberlin lebenden Vater einen Brief, dessen Inhalt einen bemerkenswerten Blick auf ein deutsch-jüdisches Kapitel im 20. Jahrhunderts freilegt: das der jüdisch-kommunistischen Migration in die DDR, der jüdisch-biografisch bedingten ideologischen Anbindung an das »bessere Deutschland.« Zugleich berichtet der Brief über den Zerfall jenes utopischen Traums, den die Kinder der jüdisch-kommunistischen Migranten in der DDR geträumt hatten.
Thomas Brasch wurde 1945 im englischen Westow als ältestes von vier Kindern geboren. Seine Eltern, der Berliner Horst Brasch (1922–1989) und die Wienerin Gerda Brasch, geborene Wenger (1921–1975), beide jüdischer Herkunft, waren der nationalsozialistischen Verfolgung ins englische Exil entkommen, wo sie sich verstärkt kommunistischen Ideen zugewandt hatten. Kurz nach Kriegsende zogen die Braschs mit ihrem kleinen Sohn Thomas in die sowjetisch besetzte Zone Deutschlands, nach Ostberlin. Gerda Brasch ordnete ihren Traum von einer eigenen Karriere der Laufbahn ihres Mannes unter, der als SED-Mitglied bis zum stellvertretenden Kulturminister aufsteigen sollte.
Der Kommunismus – und die durch sein egalitäres Versprechen möglich scheinende Rückkehr ins deutsche Gemeinwesen – diente vielen jungen Juden als Antwort auf ihre von Antisemitismus und Verfolgung geprägte Entwurzelung. Auch die ideologische Hinwendung Horst und Gerda Braschs zur Idee der Neugründung eines sozialistischen Gemeinwesens folgte dieser Bewegung. Ihr Sohn Thomas sah sich früh mit dem Imperativ konfrontiert, das »zu lieben, was man lieben will, aber muß, die DDR, den Traum vom Sozialismus und den Vater.« Staat, Ideologie und Familie in Personalunion.
Doch die Utopie blieb aus; vielmehr wuchs in der DDR die Diskrepanz zwischen Traum und Realität. Der DDR-Schriftsteller Heiner Müller (1929–1995) wird 1977 über Braschs Alterskohorte schreiben: »Die Generation der heute Dreißigjährigen in der DDR hat den Sozialismus nicht als Hoffnung auf das Andere erfahren, sondern als deformierte Realität. Nicht das Drama des Zweiten Weltkriegs, sondern die Farce der Stellvertreterkriege … Nicht die wirklichen Klassenkämpfe, sondern ihr Pathos … Nicht die große Literatur des Sozialismus, sondern die Grimasse seiner Kulturpolitik.« Oder in den Worten Thomas Braschs aus dem Brief an seinen Vater: »Ich mache Dir einen Vorwurf: Ihr (das heißt Du; für mich) hattet keine Geduld (und keine Zeit), uns zu lehren, Euch (Dich) zu verstehen. Und ich mache uns (mir) einen Vorwurf: Wir haben geglaubt (Euch!): Der Sozialismus (das schönste schwierige) ist eine glatte Straße.«