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Blog der Doktorandinnen und
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Abscheu oder Lust?

Karl Kraus’ spätes Schreiben

von

Als einer der bekanntesten Satiriker und Zeitdiagnostiker Österreichs wurde Karl Kraus weit über die Grenzen des Landes hinaus rezipiert. Unter den eifrigen Leserinnen und Lesern der von Kraus begründeten und zwischen 1899 bis 1936 herausgegebenen Satirezeitschrift Die Fackel waren Theodor W. Adorno, Walter Benjamin, Franz Kafka sowie Gershom Scholem. Ludwig Wittgenstein ließ sich die Zeitschrift bis nach Norwegen schicken. Und auch der in Italien lebende Schriftsteller Rudolf Borchardt bezog sie.

Neben auf die Presse abzielenden satirischen Attacken führte Kraus einen ausdauernden Kampf gegen etliche Zeitgenossen. Die Polemiken gegen den Zeitungsmogul Imre Békessy, den Wiener Polizeipräfekten und späteren Bundeskanzler Johann Schober sowie den Schriftsteller und Kritiker Alfred Kerr in den 1920er Jahren zählen zu den großen Kampagnen, die Kraus in der Fackel und außerhalb – vor Gericht, in Vorlesungssälen und auf der Straße – lancierte.

Karl Kraus (1874–1936), Wikimedia Commons (gemeinfrei).
Karl Kraus (1874–1936), Wikimedia Commons (gemeinfrei).

Die Machtübertragung an die Nationalsozialisten im benachbarten Deutschland verschlug Kraus jedoch die Sprache: Kommentarlos erschien mehrere Monate in Folge keine neue Ausgabe der Fackel. Wie aber kam es zum Verstummen des Satirikers? Mit Beginn der nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland stellte sich Kraus die Frage, wie über die politische Situation angemessen geschrieben werden könne. Satire und Polemik schienen ihm keine geeigneten Mittel, um die Ereignisse zu bewältigen. Anstatt sich sprachkritisch mit dem Nationalsozialismus auseinanderzusetzen, fehlten Kraus die Worte. Diese sprachliche Ohnmacht brachte er in dem berühmten Gedicht Man frage nicht zum Ausdruck, das er im Herbst 1933 in der im Umfang kürzesten Fackel veröffentlichte.

Während sein öffentliches Schweigen als Satiriker kritisiert wurde, schrieb Kraus den gegen den Nationalsozialismus gerichteten, erst posthum herausgegebenen Essay Dritte Walpurgisnacht. Anstatt jedoch diese Abhandlung zu publizieren, sprach er sich in der Ende Juli 1934 veröffentlichten Fackel mit dem Titel Warum die Fackel nicht erscheint für Engelbert Dollfuß, den Begründer des austrofaschistischen Ständestaats, als Bundeskanzler aus. Diese Ausgabe blieb der erste und einzige autorisierte Text, in dem Kraus die politischen Umstände zwar einseitig – die Kritik am Nationalsozialismus wurde durch Schuldzuweisungen an die Sozialdemokratie ersetzt –, aber umfangreich analysierte.

Dass Kraus das »kleinere Übel« Dollfuß zum vermeintlichen Schutz Österreichs Hitler vorzog, stieß auf erbitterten Widerspruch. Sein direktes Umfeld und einstige Fürsprecher, zu denen Bertolt Brecht, Elias Canetti und Bertolt Viertel gehörten, distanzierten sich von Kraus. Die Enttäuschung derer, die Kraus zuvor verehrt und unterstützt hatten, machte sich spätestens mit der Ausgabe vom Juli 1934 bemerkbar und mündete in starken Protest gegen dessen öffentliche Befürwortung des Dollfuß-Regimes. Kraus blieb dieser Position treu, ebenso beharrte ein Teil der Leserschaft auf seiner Ablehnung, die Kraus circa zwei Jahre später in einem handschriftlichen Entwurf eines Essays für die Fackel in einen »Erfolg des Vergessenwerdens« umdeutete. Die aus der »Fehleinschätzung« seiner Zeitgenossen resultierende Isolation bejahte er als notwendige Konsequenz.

Handschriftlicher Entwurf eines von Karl Kraus geplanten Essays für die Zeitschrift »Die Fackel«, circa 1936, Wienbibliothek im Rathaus, Handschriftensammlung, ZPH-985, Nr. 150.
Handschriftlicher Entwurf eines von Karl Kraus geplanten Essays für die Zeitschrift »Die Fackel«, circa 1936, Wienbibliothek im Rathaus, Handschriftensammlung, ZPH-985, Nr. 150.

Ab 1934 bis zu seinem Tod lebte Kraus nicht nur sehr zurückgezogen, auch nahm er von seinem angriffslustigen Stil Abstand. Seine ungewohnt defensive Haltung und fast schon kontemplative Auseinandersetzung mit Shakespeares Werk in dieser Zeit werden oft als »innere Emigration« bezeichnet. »Wenn der Abscheu stärker ist als die Lust, ihn zu meistern, empfiehlt sich die Zurückziehung auf die Welt Shakespeares und der Sprache, und die Flucht in eine Wirklichkeit, die keine Wirksamkeit gewährt«. Diese Sentenz stammt ebenfalls aus der Essayskizze von 1936. Vor allem der Verweis auf Shakespeare ähnelt dem bekannten Kraus-Zitat aus einem Brief an seine langjährige Freundin Sidonie Nádherný: »Die Weltdummheit macht jede Arbeit – außer an Shakespeare – unmöglich.« Während Kraus in der Niederschrift die »Zurückziehung« auf Shakespeare und die Sprache empfiehlt, beschränkt sich der Rückzug im Brief, den er vier Wochen vor seinem Tod am 12. Juni 1936 verfasste, allein auf die Welt Shakespeares.

Die veränderte Haltung führte Kraus in dem Essayentwurf auf ein Ungleichgewicht der inneren Verhältnisse zurück: Der Abscheu sei größer als das Verlangen, ihn zu überwinden. Diese Selbstdiagnose verweist auf eine wesentliche Motivation seiner Schreibpraxis. Auch wenn er Journalisten, Schriftsteller sowie Politiker in der Fackel durchgehend kritisierte, so waren sie doch zugleich Bedingung seiner Texte. Der Abscheu wurde durch die Lust, die sich im Schreiben ausdrückt, bezwungen und produktiv genutzt.

Das überlieferte Manuskript zeigt Kraus’ Versuch, das Dilemma schriftstellerisch zu überwinden. Zwar deutet der auf der dritten Seite abgebrochene Text ein Scheitern an. Doch bezeugen die mit etlichen Streichungen und Änderungen versehenen Zeilen seine Suche nach Worten, die sich im Gegensatz zur Juli-Ausgabe der Fackel nicht mit den Verwerfungen der Sozialdemokratie, sondern mit der Rolle der Presse befassen. Wie der Essay Dritte Walpurgisnacht blieben aber auch diese Zeilen zu Kraus’ Lebzeiten unveröffentlicht. Nach außen hin verharrte er bis zuletzt in seinem Schweigen, das Ausdruck seiner sprachlichen Ohnmacht gegenüber dem Nationalsozialismus war. Die Texte aus dem Nachlass zeigen dagegen, dass Kraus weiter versuchte, das Zeitgeschehen schreibend zu bewältigen.

Isabel Langkabel ist Doktorandin am Germanistischen Seminar der Universität Heidelberg und wissenschaftliche Mitarbeiterin des Ludwig Boltzmann Institute for Digital History in Wien. In ihrem Dissertationsprojekt ediert und kommentiert sie unveröffentlichte Texte zur Sprachkritik aus dem Nachlass von Karl Kraus | isabel.langkabel(at)history.lbg.ac.at

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