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Blog der Doktorandinnen und
Doktoranden am Dubnow-Institut

Den Hals zum Messer hinstrecken

Ein weiteres Lied von Hirsh Glik?

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In getragenem Tempo erklingt eine Sopranstimme von einer Schallplattenaufnahme der Zentralen Historischen Kommission München und singt das Lied Neyn o neyn o neyn (Nein, oh nein, oh nein); der Verfasser wird nicht genannt. In einem überlieferten Liedmanuskript wird der Partisanendichter Hirsh Glik (1920–1944) als Autor angegeben. Doch handelt es sich tatsächlich um ein unentdecktes Werk von Glik, den ermordeten Verfasser von Zog nit keynmol az du geyst dem letstn veg (Sag niemals, du gehst den letzten Weg), einem der berühmtesten Lieder des Holocaust?

Begleitet vom Rauschen der inzwischen 78 Jahre alten Schallplatte wird in den sechs Versen von Neyn o neyn o neyn ein bedrohlicher und desolater Zustand besungen. Neben dem allgegenwärtigen Schmerz kommt der Text auf die »eigenen Verräter« und einen dennoch verbleibenden Hoffnungsschimmer zu sprechen. Schließlich resümiert der nicht genannte Autor, es sei besser, dem sich ankündigenden, unvermeidlichen Tod heldenhaft zu begegnen: Die rhetorische Frage, ob man seinen Hals zum Messer hinstrecken solle, wird mit dem dreimaligen »Nein« des Liedtitels beantwortet.

Der Liedtext von »Neyn o neyn o neyn« im Notizbuch mit dem Titel »Vilner geto lider«, handgeschrieben von Gite Muler-Gurbits für die Zentrale Historische Kommission München. Quelle: Yad Vashem, Moshal Repository, M.1.PF – Wartime Jewish Folklore Collection, Signatur 448/119.
Der Liedtext von »Neyn o neyn o neyn« im Notizbuch mit dem Titel »Vilner geto lider«, handgeschrieben von Gite Muler-Gurbits für die Zentrale Historische Kommission München. Quelle: Yad Vashem, Moshal Repository, M.1.PF – Wartime Jewish Folklore Collection, Signatur 448/119.

Als ein im Holocaust von Verfolgten gesungenes Lied stellte Neyn o neyn o neyn für die Zentrale Historische Kommission München, die in der amerikanischen Besatzungszone von jüdischen Displaced Persons gegründet worden war, ein wichtiges Sammlungsobjekt dar. Wie andere frühe Sammelinitiativen von Überlebenden hatte sie zum Ziel, Dokumente über den Holocaust aus der Opferperspektive für eine spätere Erforschung zusammenzutragen. Hierin sollte auch die entstandene Folklore als Ausdruck der Erfahrungswelt der Verfolgten begriffen sein. Das Besondere an der Münchner Kommission war allerdings, dass die überlieferten Lieder nicht nur notiert, sondern die Musik physisch aufgenommen wurde. In Anzeigen in der Kommissionszeitschrift Fun letstn churbn (Von der letzten Zerstörung) wurden Überlebende aufgefordert, zum Hauptsitz der Zentralen Historischen Kommission zu kommen, um Lieder als Gedenken an die Ghettos und Lager einzusingen. In der Möhlstraße 12 a im Stadtteil Bogenhausen gelegen, befand sich die Historische Kommission ausgerechnet in jenem Münchner Villenviertel, das kurz zuvor noch aufgrund der Nähe zu Hitlers Privatwohnung von begeisterten NS-Funktionären bewohnt worden war. Inzwischen war es ein Zentrum für Jüdinnen und Juden geworden, die nach dem Krieg übergangsweise im Land der Täter strandeten. Die Werbung der Kommission schien Anklang zu finden: 52 Lieder wurden in der Möhlstraße aufgenommen, die inzwischen – nach der Verlegung des Archivs in den neu gegründeten Staat Israel – digitalisiert vorliegen und auf der Website der National Library of Isreal angehört werden können.

Schallplatten der Zentralen Historischen Kommission München, Föhrenwald. Quelle: Yad Vashem, Bildsammlung aus DP-Lagern, Signatur 1486/1483.

Wie bei diesen Aufnahmen üblich, gab die Sängerin am Ende an, dass das Lied ein Geschenk für die Historische Kommission sei. Die anschließende Berufsangabe – Lehrerin – und ihr Name – Gite Muler – sind aufgrund von Störgeräuschen nur schwer zu verstehen. Zwei weitere Quellen bestärken die Zuordnung. Im Archiv befindet sich ein Notizbuch mit dem Titel Vilner geto lider, das acht handgeschriebene Lieder enthält, darunter eine leicht abweichende Fassung von Neyn o neyn o neyn, in dem Gite Muler-Gurbits auf der letzten Seite am 23. September 1946 als Verfasserin der Liedersammlung unterschrieb. Ein sieben Tage später datiertes Dokument aus dem DP-Camp der Münchner Funkkaserne bestätigt, dass ebenjene Gite Muler-Gurbits Lehrerin war.

Neben die Überschrift von Neyn o neyn o neyn notierte sie »fun hirshke glik« (von Hirsh Glik). Der Inhalt dieses Liedes weist freilich starke Überschneidungen mit anderen Liedern Gliks auf. Der junge Dichter, der den Holocaust nicht überlebte, schrieb im Wilnaer Ghetto im Frühjahr 1943 auf eine bekannte sowjetische Filmmelodie den Text der Hymne Zog nit keynmol az du geyst dem letstn veg (Sag niemals, du gehst den letzten Weg). Sein Weggefährte Shmerke Kaczerginski (1908–1954) berichtete später, dass Glik beim Verfassen des Mut und Hoffnung zusprechenden Texts die Nachricht über den kurz zuvor ausgebrochenen Warschauer Ghettoaufstand inspiriert hatte. Sowohl während als auch nach dem Krieg erfuhr das Lied eine enorme Verbreitung: Es avancierte zu einem der berühmtesten Lieder des Holocaust und wurde häufig mit diesem heroischen Aufstand verknüpft. Glik hatte sich im Wilnaer Ghetto der Fareynikte Partizaner Organizatsye (Vereinigte Partisanenorganisation) angeschlossen, die unter anderem den auf den Propheten Jesaja referenzierenden Aufruf verbreitete, nicht wie die Schafe zur Schlachtbank zu gehen. Das gleiche Sentiment findet sich in der zentralen Liedzeile von Neyn o neyn o neyn wieder, in der dazu aufgerufen wird, seinen Hals nicht zum Messer hinzustrecken.

Dass es sich bei Neyn o neyn o neyn um ein unentdecktes Lied von Glik handelt, ist jedoch äußerst unwahrscheinlich. In einer weiteren Aufnahme des Liedes durch die Historische Kommission, die sodann den Titel Neyn o keyn mol neyn (Nein, oh, niemals nein) trägt, wurde das Werk nicht mehr mit Glik verknüpft. Und in der 1947 vom Zentralkomitee der Juden in Polen veröffentlichten einschlägigen Liedersammlung Undzer gezang (Unser Gesang) wurde der gleiche Text mit dem Titel Tsayt-lid (Zeitlied) dem Dichter Nakhum Yud (1888–1966) zugeschrieben. Yud emigrierte schon 1916 in die USA, arbeitete dort für die New Yorker Zeitung Forverts und war vor allem für seine Kinderfabeln bekannt. In seinen gesammelten Werken wurde das besprochene Lied unter dem Titel Der umbashitster (Der Unbeschützte) veröffentlicht.

Das Lied Neyn o neyn o neyn stammte somit höchstwahrscheinlich weder aus dem Ghetto Wilna noch aus der Feder von Hirsh Glik, sondern wurde in Amerika von Nakhum Yud geschrieben. An der fehlerhaften Zuschreibung der Münchner Aufnahme lassen sich wichtige Aspekte der Überlieferungsgeschichte von Holocaustliedern zeigen. Zum einen, dass eben nicht nur aus der unmittelbaren Verfolgung entstandene Lieder, sondern auch solche aus anderen Entstehungskontexten gesungen wurden, um Erlebnisse zu verarbeiten. Das bekannteste Beispiel dafür ist das bereits 1937 verfasste S’brent (Es brennt) von Mordechai Gebirtig (1877–1942), das oft mit dem Holocaust assoziiert wird.

Zum anderen spiegelt diese Aufnahme, wie der Heroismus in der Erinnerungskultur der frühen Nachkriegszeit in den Vordergrund gerückt wurde. Insbesondere der Warschauer Ghettoaufstand avancierte damals zu einer zentralen Erinnerungsikone. Dass ein heroischer US-amerikanischer Text fälschlicherweise einem Autor zugeordnet wurde, der mit der mit dem Ghettoaufstand verknüpften Partisanenhymne in Verbindung gebracht wurde, unterstreicht die schon im Jahr 1946 bestehende Strahlkraft von Hirsh Glik.

Unbeeinträchtigt von diesem Widerspruch verbleibt der einzigartige Höreindruck dieser Schallplattenaufnahme der Zentralen Historischen Kommission München, die uns einen Einblick in die im Wilnaer Ghetto gesungenen Liedern vermittelt. Dies lag sicherlich in der Absicht der Sängerin Gite Muler-Gurbits, die ihre Liedersammlung am symbolischen Datum des 23. September 1946, dem dritten Jahrestag der Zerstörung des Ghettos, der Historischen Kommission übergeben hatte.

David Wunderlich hat in Leipzig Musik und Geschichte studiert und am Dubnow-Institut seine Masterarbeit über jiddische Liedersammlungen der frühen Nachkriegszeit geschrieben. Seit 2024 arbeitet er im Auftrag des Instituts an einem Register der jiddischsprachigen Zeitung Eynikayt des Jüdischen Antifaschistischen Komitees | dd_wunderlich(at)yahoo.com.

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