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Blog der Doktorandinnen und
Doktoranden am Dubnow-Institut

Eine Zeitkapsel des öffentlichen Rechts

Walter Jellineks wissenschaftliche Privatbibliothek im Bundesverfassungsgericht

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Etwa 4 000 bis 4 500 Bände und Kleinschriften aus der Privatbibliothek des Staats- und Verwaltungsrechtlers Walter Jellinek stehen zwischen den circa 400 000 Exemplaren an Fachliteratur, die die Bibliothek des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe beherbergt.Vgl. Bibliothek des Bundesverfassungsgerichts Karlsruhe, Bestandsverzeichnis der Bibliothek Prof. Dr. Walter Jellinek (Anlage zur Zugangsbuchnummer 56/1800), ohne Datum. Jellineks ehemalige Bücher sind im Bibliothekskatalog nicht explizit gekennzeichnet. Jedoch begegnet den Nutzerinnen und Nutzern der nicht allgemein zugänglichen Bestände mitunter ein von der Bibliothek zur Würdigung des Sammlers eingesetzter Stempel. Nur selten lassen sich andere Hinweise finden, die auf den vorherigen Besitzer verweisen.

Besitzstempel des Rabbiners Adolf Jellinek auf dem Titelblatt eines Buches aus Walter Jellineks Büchernachlass in der Bibliothek des Bundesverfassungsgerichts, Signatur RG 14: 859-1(3): Hippolyte Taine, Les Origines de la France Contemporaine, Bd. 1: L’Ancien Régime, 3. Aufl., Paris 1876.
Besitzstempel des Rabbiners Adolf Jellinek auf dem Titelblatt eines Buches aus Walter Jellineks Büchernachlass in der Bibliothek des Bundesverfassungsgerichts, Signatur RG 14: 859-1(3): Hippolyte Taine, Les Origines de la France Contemporaine, Bd. 1: L’Ancien Régime, 3. Aufl., Paris 1876.
Widmung des Strafrechtlers Karl L. Binding für Georg Jellinek auf dem Titelblatt eines Buches aus Walter Jellineks Büchernachlass in der Bibliothek des Bundesverfassungsgerichts, Signatur JK 061: Karl L. Binding, Der Versuch der Reichsgründung durch die Paulskirche in den Jahren 1848 und 1849. Akademische Rede, Leipzig 1892.
Widmung des Strafrechtlers Karl L. Binding für Georg Jellinek auf dem Titelblatt eines Buches aus Walter Jellineks Büchernachlass in der Bibliothek des Bundesverfassungsgerichts, Signatur JK 061: Karl L. Binding, Der Versuch der Reichsgründung durch die Paulskirche in den Jahren 1848 und 1849. Akademische Rede, Leipzig 1892.

Jellinek verstarb völlig unerwartet 1955. Noch im selben Jahr kaufte das Bundesverfassungsgericht, das seine Arbeit erst wenige Jahre zuvor aufgenommen hatte, den gesamten Büchernachlass. Denn mit seinem dezidierten Profil – Werken des öffentlichen Rechts – entsprach er genau dem Hauptschwerpunkt der Gerichtsbibliothek, die sich von Grund neu konstituierte und Literatur aus diesem Gebiet dringend benötigte. Die Witwe Irmgard Jellinek wickelte den Verkauf sorgsam ab. Sie handelte ganz im Sinne Walter Jellineks, der »sich schon bei Lebzeiten […] geäussert hat[te],« wie sie gegenüber Bibliotheksdirektor Josef Mackert hervorhob, »dass seine Bibliothek auch nach seinem Tode als Ganzes der Wissenschaft dienen solle.«Bibliothek des Bundesverfassungsgerichts Karlsruhe, Unterlagen zum Erwerb der Privatbibliothek von Prof. Dr. Walter Jellinek: Irmgard Jellinek, Heidelberg, an Josef Mackert, Karlsruhe, 25. November 1955. Mit der Integration des Nachlasses in die Räume des höchsten Gerichts in der Bundesrepublik erhielt die Sammlung aber eine gleichsam öffentliche Bestimmung. Von nun an diente sie als Hilfsmittel, um das verfassungsmäßige Handeln der drei Staatsgewalten zu kontrollieren, bei Streitigkeiten die Verfassung letztgültig zu interpretieren und Verfassungsbeschwerden zu prüfen. Bis zur Übernahme hatten die Druckerzeugnisse unterschiedlichster Art in Jellineks Heidelberger Wohnung gestanden und dort die Basis seiner Berufsausübung als Hochschullehrer und Forscher gebildet.

Den Grundstock der wissenschaftlichen Privatbibliothek formten Bücher, die Walter Jellineks Vater, der Rechtsphilosoph Georg Jellinek, erworben, geschenkt bekommen oder wiederum selbst von seinem Vater, dem Rabbiner Adolf Jellinek, übernommen hatte. Nach Georg Jellineks Tod 1911 – Walter Jellinek war schon promoviert worden und stand vor einem Umzug nach Leipzig, wo er sich habilitieren wollte –, nahm dieser sich der vertrauten Sammlung an. Den Bestand sortierte er erstmals im Dezember 1912, als er bereits als Privatdozent in Leipzig arbeitete. Den Reichtum danach klarer überschauend, berichtete er seinem Jugendfreund Alexander Wiener: »Die Bücher sind jetzt nach Materien geordnet. Da merke ich erst, wie großartig die Bibliothek meines Vaters ist.«Bundesarchiv Koblenz, BArch N 1242/183, Auszüge aus Jugendbriefen: Walter Jellinek, Leipzig, an Alexander Wiener, ohne Ort, 1. Dezember 1912. Als Jellinek ein Jahr später an der Universität Kiel eine planmäßige außerordentliche Professur für Öffentliches Recht antrat und zudem noch Kirchenrecht unterrichtete, konnte er nicht wie sonst aus der eigenen Büchersammlung schöpfen, weil sein Vater dieses Fachgebiet nie tiefgehend bearbeitet hatte. Die Lücke offenbarte ihm nun umso mehr die Vorzüge der übrigen Sammlung. »Jetzt erst weiß ich die Bibliothek meines Vaters ganz zu schätzen«, erklärte er seinem Freund präzisierend, »denn jetzt erst merke ich, was es heißt, wenn ein Sachverständiger Jahr für Jahr sein Handwerkszeug gesammelt hat.«Bundesarchiv Koblenz, BArch N 1242/183, Auszüge aus Jugendbriefen: Walter Jellinek, Kiel, an Alexander Wiener, ohne Ort, 15. November 1913. Diese Erkenntnis motivierte ihn, fortan die Bestände gezielt gemäß der eigenen Arbeitsschwerpunkte auszubauen.

Zugleich barg die über mehrere Generationen zusammengetragene Bibliothek viele Erinnerungen. Als Alexander Wiener Jellinek im Sommer 1912 eine Biografie über Jean-Jacques Rousseau schenkte, antwortete Jellinek, dass er dessen Œuvre bisher in der »väterlichen Bibliothek« ausgespart habe, um sich diesen »hohen Genuß des Lesens auf die Zeiten der Muße aufzusparen«. Weil er Rousseaus Werk aber als integralen Teil der »Geschichte der Allgemeinen Staatslehre« betrachte, wolle er nun nicht länger warten. Sodann entsann er sich der »flammend[en]« Begeisterung, die Georg Jellinek zeitlebens für Rousseau besessen habe, und wie sein Vater häufig den Anfang des Contrat Social bewegt »rezitiert! (Nicht bloß zitiert)« habe.Bundesarchiv Koblenz, BArch N 1242/183, Auszüge aus Jugendbriefen: Walter Jellinek, Leipzig, an Alexander Wiener, ohne Ort, 28. Juli 1912. Viele Jahre später, 1951, sollte er auf einer Feier der Heidelberger Juristischen Fakultät zu Georg Jellineks 100. Geburtstag betonen, dass nicht nur Gespräche mit ihm, sondern besonders dessen Bibliothek seine Berufswahl entschieden beeinflusst habe. So keimte in der Privatbibliothek nicht zuletzt die akademische Familientradition, die Adolf Jellinek mit einem Studium in Leipzig einst begründet hatte und Georg genauso wie später auch Walter Jellinek fortführten. Indem Letzterer das geistige Erbe Georg Jellineks pflegte und 1929 dem Ruf der Universität Heidelberg auf den ehemaligen Lehrstuhl seines Vaters folgte, unterstrich er diese Tradition noch einmal.

Ab 1933 brandmarkten die Nationalsozialisten Walter Jellinek ungeachtet seiner Taufe als Juden. Ende 1935 verdrängten sie ihn schließlich aus seinem Amt. Er versuchte, mit Ahnenforschungen der antisemitischen Verfolgung zu entrinnen, und verblieb in Deutschland. Die Jahre bis 1945 verharrte er als Privatgelehrter in seiner Heidelberger Bibliothek. Durch die Ausgrenzung aus der deutschen Rechtswissenschaft wurde die Sammlung ihrem ursprünglichen Sinn enthoben. Während dieser Zeit arbeitete Jellinek nur sporadisch an juristischen Fragen, auch fügte er der Sammlung nur wenige Bände hinzu. Weil die Nationalsozialisten Jellineks Ehe als eine »privilegierte Mischehe« bestimmten, blieb er von den schärfsten Verfolgungsmaßnahmen verschont. Im Januar 1944 musste er dagegen miterleben, wie die Nationalsozialisten seine Schwester, die Philologin und Lehrerin Dorothea Busch, nach Theresienstadt verschleppten und ihren Besitz an sich rissen. Nun wollte er sein ungeschütztes Eigentum, worunter er »insbesondere auch seine wissenschaftliche Bücherei« fasste, vor einem ähnlichen Raub retten und »seinen Kindern erhalten.« Daher übertrug er seiner Tochter Barbara »restlos seine gesamte, ihm noch gehörige Habe«.Bundesarchiv Koblenz, BArch N 1242/204, Vereinbarung zwischen Walter und Barbara Jellinek, Heidelberg, 16. Januar 1944.

Anders als etliche private oder öffentliche Bibliotheken blieb die jellineksche Sammlung, die das in Deutschland vorübergehend abgeschaffte Rechtsdenken bewahrte, paradoxerweise während der Zeit des Nationalsozialismus intakt. Bis zu Jellineks Befreiung aus der Vereinsamung in seiner Bibliothek im Frühjahr 1945 hatte diese den Wissensstand im öffentlichen Recht konserviert, wie er im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert Geltung erlangt hatte. Solch eine unversehrte Büchersammlung war in der Nachkriegszeit, in der der Zugang zu juristischer Fachliteratur aus der Zeit vor 1933 besonders schwierig, aber unabdingbar war, zur Zeitkapsel geworden. Derart verhalf die Privatbibliothek dazu, wissenschaftliche Diskussionen überhaupt erst wieder zu führen, und ermöglichte so die Rückkehr des Rechts. Sie unterstützte Jellinek nicht nur bei seiner wiederaufgenommenen Forschungs- und Lehrtätigkeit in Heidelberg, sie wurde auch zu einem rechtspraktischen Werkzeug, etwa als er die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der US-amerikanischen Zone neu konzipierte oder die Hessische Verfassung entwarf. Auf diesem Weg beförderte eine vor dem Hintergrund der Familiengeschichte jüdische Privatbibliothek den Wiederaufbau der deutschen Staatlichkeit nach den Jahren ihrer Selbstzerstörung, und dies noch bevor sie im Bundesverfassungsgericht im gleichen Sinne ein dauerhaftes Fortwirken fand.

Philip Emanuel Bockelmann ist Stipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes und erarbeitet unter der Betreuung von Yfaat Weiss am Leibniz-Institut für jüdische Geschichte und Kultur – Simon Dubnow eine Dissertation über Walter Jellineks Wirken in der frühen Bundesrepublik. Die inspirierende und fruchtbare Zusammenarbeit währt seit dem Beginn von Yfaat Weiss’ Direktorat des Dubnow-Instituts 2017, als der Verfasser begann, ihre Arbeit als wissenschaftliche Hilfskraft zu unterstützen | bockelmann@dubnow.de

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