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Blog der Doktorandinnen und
Doktoranden am Dubnow-Institut

Flucht oder Befreiung

Der Mythos der »italiani brava gente«

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Im Frühjahr 1943 erreichte Israel Kalk (1904–1980), Vorsitzender der Mensa dei Bambini (Tafel der Kinder) und Ingenieur, ein Brief aus dem Internierungslager Ferramonti di Tarsia in Süditalien. Kalk stammte aus einer litauisch-jüdischen Familie, war mit einer nichtjüdischen Italienerin verheiratet und hatte, nachdem ihm aufgrund der 1938 erlassenen leggi razziali (Rassegesetze) die Ausübung seines Berufs untersagt blieb, eine private Hilfsorganisation für Kinder ins Leben gerufen. Drei polnische Juden – die Herren Liverant, Nelkenbaum und Kawa – hatten ein Bittgesuch gesendet. Sie wurden seit Dezember 1942 im seinerzeit größten Internierungslager für Ausländer und Staatenlose, die überwiegend jüdischer Abstammung waren, festgehalten.

Der auf den 17. Mai datierte Brief ist als solcher zunächst nicht ungewöhnlich. Wie viele Gefangene, benötigten die Männer dringend »Bekleidung, Schuhe […] und Wäsche«. Das faschistische Regime hatte unmittelbar nach dem Kriegseintritt Italiens im Juni 1940 damit begonnen, Ausländerinnen und Ausländer, Staatenlose und politische Gefangene – darunter viele Jüdinnen und Juden – in Lager zu sperren. In der dünn besiedelten, strukturschwachen und malariaverseuchten Landschaft Kalabriens ließ der Staat einfache Baracken erbauen. Ohne Hilfe von außen war der Alltag in den Internierungslagern kaum zu bewältigen, wie unzählige überlieferte Bitt- und Dankesschreiben an Israel Kalk und seine Mailänder Hilfsorganisation belegen.ACDEC, fondo Israel Kalk, b. 1, fasc. 6, 8. Verzweifelte Eltern ersuchten Kalk um Kleidung, Nahrung und Medikamente. Kinder bedankten sich bei ihm für die erhaltenen Lebensmittel. Für die in äußerst prekären Verhältnissen lebenden Menschen in Ferramonti erschien Israel Kalk als Retter in der Not. Bei vielen Internierten handelte es sich um Flüchtlinge aus Deutschland oder Österreich, die insbesondere seit 1938 in das vermeintlich sichere Italien eingereist waren oder auf diesem Weg in andere Zielländer emigrieren wollten. Andere, aufgrund ihrer jüdischen Herkunft Verfolgte waren indes in der frühen Zwischenkriegszeit nach Italien ausgewandert und hatten sich dort ein Leben aufgebaut, waren aber durch die italienischen Rassegesetze in Armut getrieben worden.

Brief von Hersch Liverant, Moschk. [sic] Nelkenbaum und Hercel Kawa an Israel Kalk, Ferramonti di Tarsia, 17. Mai 1943.
Brief von Hersch Liverant, Moschk. [sic] Nelkenbaum und Hercel Kawa an Israel Kalk, Ferramonti di Tarsia, 17. Mai 1943, Archivio Fondazione CDEC, fondo Israel Kalk, b. 7, fasc. 100.
Brief von Hersch Liverant, Moschk. [sic] Nelkenbaum und Hercel Kawa an Israel Kalk, Ferramonti di Tarsia, 17. Mai 1943.
Brief von Hersch Liverant, Moschk. [sic] Nelkenbaum und Hercel Kawa an Israel Kalk, Ferramonti di Tarsia, 17. Mai 1943, Archivio Fondazione CDEC, fondo Israel Kalk, b. 7, fasc. 100.

Der Brief von Liverant, Nelkenbaum und Kawa unterscheidet sich in einem Punkt deutlich von den üblichen Gesuchen, die Kalk erreichten: Er ist an der Schreibmaschine verfasst. Es scheint sich um eine Abschrift von einem handschriftlichen Original zu handeln. Auf der Rückseite ist auf Italienisch mit Bleistift notiert: »Drei aus Treblinka geflohene Juden, von italienischen Soldaten in einem Truppentransport versteckt und nach Italien gebracht. Anschließend in Ferramonti interniert. Wohnen momentan in Israel.« In den 1950er Jahren begann Kalk damit, seine Arbeit für die Mensa dei Bambini zu dokumentieren. Aus dieser Zeit muss auch der Vermerk auf der Rückseite stammen, zumal Kawa und Nelkenbaum bereits im Frühsommer 1944 in den Jischuw ausgewandert waren. Ebenfalls in der Sammlung Kalks befindet sich ein bemerkenswerter Erinnerungsbericht von Hercel Kawa, einem der drei polnischen Juden, die das Bittgesuch an Israel Kalk gestellt hatten.Erinnerungsbericht Herzl Kave (Hercel Kawa), o. O., o. J., ACDEC, fondo Israel Kalk, b. 7, fasc. 101. Kawa stammte aus Siedlce, einer jüdisch geprägten Kleinstadt in Ostpolen. Er erlebte den Einmarsch der Deutschen 1939 und die Errichtung eines Ghettos. Er entging den Massenexekutionen und der Deportation nach Treblinka, und musste stattdessen mit seinen beiden Freunden an der Bahnstrecke Zwangsarbeit leisten. In Siedlce waren im Herbst 1942 italienische Soldaten stationiert. Schließlich, so berichtet Kawa, seien die Männer heimlich in einen Versorgungszug des italienischen Militärs eingestiegen. Der Zug sei am 23. Oktober 1942 in Siedlce losgefahren, habe Polen in Richtung Prag verlassen, anschließend Süddeutschland und Österreich durchquert. Erst am Brennerpass, der österreichisch-italienischen Staatsgrenze, hätten italienische Soldaten die blinden Passagiere entdeckt und dem örtlichen Gefängnis überstellt. Im Dezember 1942 seien sie von Carabinieri in das Internierungslager Ferramonti überführt worden.

Archivio Fondazione CDEC, Milano.
Eine Zeichnung ziert das Deckblatt eines Fotoalbums aus dem Besitz Israel Kalks. Die ästhetisierende Darstellung ist Ausdruck einer Verklärung des Internierungslagers Ferramonti di Tarsia. Giorgetta Lubatti, Kalks Ehefrau, übergab das Fotoalbum nach dem Tod ihres Mannes dem Archiv des Centro di Documentazione Ebraica Contemporanea. Archivio Fondazione CDEC, Milano.

Die nach Kawas Darstellung spektakuläre Flucht aus dem Generalgouvernement wird nun aber in der handschriftlichen Notiz auf dem Brief völlig anders ausgelegt. Hier treten die italienischen Soldaten als Retter und Fluchthelfer auf. Die offenbar nachträgliche Deutung der Flucht als Befreiungsaktion verweist dabei auf ein Narrativ von Anstand, Mildtätigkeit und Solidarität der Italienerinnen und Italiener, das sich nach 1945 selbst innerhalb der jüdischen Bevölkerung des Landes verfestigte. Dies verwundert umso mehr angesichts der massiven gesellschaftlichen Ausgrenzungen, welche Jüdinnen und Juden spätestens ab 1938 durch die faschistische Regierung Italiens erfuhren. Nach der deutschen Besetzung Nord- und Mittelitaliens im September 1943 waren italienische Polizisten und faschistische Milizen sowie Denunziantinnen und Denunzianten unter der Zivilbevölkerung an ihrer Verhaftung und Deportation beteiligt. Einige hundert Menschen starben bei Verhaftungsaktionen. Über 6 000 von der Halbinsel deportierte Männer, Frauen und Kinder wurden in Auschwitz, Ravensbrück, Flossenbürg und anderen Lagern ermordet. Diese grauenhaften Ereignisse während der deutschen Besatzungszeit überlagerten im kollektiven Gedächtnis der Italienerinnen und Italiener die antijüdischen Maßnahmen der eigenen Regierung und deren Beteiligung an der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik. Staat und Gesellschaft grenzten sich von der unangenehmen Vergangenheit ab, indem sie den Faschismus gegenüber dem Nationalsozialismus als das kleinere Übel darstellten, und die Bedeutung des italienischen Widerstands in den Vordergrund rückten. Jüdinnen und Juden in Italien fügten ihre Geschichte in diese Narrative ein, trugen sie teilweise sogar mit. Zwar büßte der Mythos der italiani brava gente (Italiener, gute Menschen) durch kritische Forschung seit den 1980er Jahren an Überzeugungskraft ein. Dennoch prägt er das Bild des italienischen Faschismus bis heute.Vgl. Alexander Stille, The Double Bind of Italian Jews. Acceptance and Assimilation, in: Joshua D. Zimmerman (Hg.), Jews in Italy under Fascist and Nazi Rule, 1922–1945, Cambridge 2005, 19–34, hier 21 f.

Mirjam Spandri ist Doktorandin am Zentrum für Holocaust-Studien am Institut für Zeitgeschichte in München. Sie erforscht in ihrem Dissertationsprojekt die Perspektive der verfolgten Jüdinnen und Juden in Italien unter faschistischer Diktatur und nationalsozialistischer Besatzungspandri(at)ifz-muenchen.de

Das Fotoalbum Israel Kalks ist in der Digital Library des Archivio Fondazione CDEC einsehbar.

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