Rahel Varnhagen war im 19. Jahrhundert so bekannt, dass man ihrem Vornamen nichts hinzusetzen musste, um zu wissen, von wem die Rede war. Noch als sich vornehmlich seit den 1930er Jahren eine Reihe von Wissenschaftlerinnen mit der Berliner Salonnière und Goethe-Verehrerin auseinandersetzten, sprachen sie fast ausschließlich von »Rahel«. Doch zeigt sich darin keine Geringschätzung einer Frau, die im engeren Sinne kein eigenes Werk hinterlassen hat. Vielmehr drückt sich in der intimen Bezugnahme eine starke Identifikation aus. In einem Brief vom 21. Juni 1971 schrieb die politische Theoretikerin Hannah Arendt aus den USA an die 1956 aus dem schwedischen Exil in die Bundesrepublik zurückgekehrte Literaturwissenschaftlerin Käte Hamburger:
»Sehr geehrte Frau Hamburger, / ich danke Ihnen, dass Sie mir Ihre Arbeit über Rahel und Goethe zugeschickt haben. Aber glauben Sie wirklich, dass Ihre Meinung, ich hätte ein ‚Rahel durchweg höhnisch diffamierendes Buch geschrieben‘, als ‚ein wenig Kritik an meiner Rahel-Auffassung‘ bezeichnet werden kann? Wie immer das sei, mir erscheint Ihre Meinung ein groteskes Missverständnis.«
In ihrer 1968 veröffentlichten Schrift hatte Käte Hamburger das Goethe-Erlebnis Rahel Varnhagens als Schlüsselszene deutsch-jüdischer Geschichte interpretiert. Damit meinte sie, sich stark abzugrenzen von Arendts bedeutender Varnhagen-Biografie, die erstmals 1959 auf Deutsch erschien. Hier werde Rahel Varnhagen »ausschließlich unter dem Gesichtspunkt [dargestellt], daß sie aus dem Judentum wegstrebt, ihre Herkunft als Makel und Unglück empfunden hat«. Am Beispiel Varnhagens hatte Hannah Arendt bereits in den 1930er Jahren ihr Konzept eines dezidierten Außenseitertums erarbeitet, verkörpert durch den Paria, der gerade aufgrund seiner Distanz zur Gesellschaft diese durchschauen könne. Ihre Studie gehörte damit – etwa gemeinsam mit dem Werk Gershom Scholems – zu den wichtigen Zeugnissen einer selbstbewussten jüdischen Position, die eine vermeintliche »deutsch-jüdische Symbiose« noch vor 1933 aufkündigte und politisch scharfsichtig das Ausmaß des Antisemitismus in Deutschland reflektierte. Doch warum verteidigte dagegen Hamburger noch in den 1960er Jahren, nach der Erfahrung des Nationalsozialismus und mit dem Wissen um den Holocaust, ebendiese vermeintliche Symbiose, die sie in »Rahel und Goethe« verkörpert sah?