Am Sonntag, dem 1. September 1946 zeichnete der lettisch-amerikanische Psychologe David Pablo Boder (1886–1961) in der norditalienischen Gemeinde Tradate ein Interview mit dem aus Lemberg stammenden Isaac Wolf auf. Es handelt sich dabei um eine von insgesamt knapp 130 Audioaufnahmen, die Boder im Nachkriegseuropa anfertigte. Im Juli 1946 hatte der am Chicagoer Illinois Institute of Technology lehrende Professor mit einem Drahttonrekorder und 200 Drahtspulen im Gepäck den Atlantik überquert. Bei dem Großteil der von ihm daraufhin in Frankreich, der Schweiz, in Italien und im besetzten Deutschland befragten Personen handelte es sich um Displaced Persons (DPs), die meisten waren wie Wolf jüdische Überlebende der nationalsozialistischen Verfolgung.
Das von Boder während seiner Feldforschung angelegte Audioarchiv bildete die Grundlage für seine anschließenden Studien über die Zusammenhänge von Sprache, Persönlichkeit und Trauma. Der in experimenteller Psychologie geschulte Forscher wertete, nachdem er nach Chicago zurückgekehrt war, den sprachlichen Ausdruck der Erzählungen quantitativ aus, um valide Aussagen über die Auswirkungen der Extremerfahrungen auf die Persönlichkeit der Befragten zu treffen.David P. Boder: I Did Not Interview the Dead, Urbana, Ill., 1949; ders., Topical Autobiographies of Displaced People Recorded Verbatim in the Displaced Persons Camps, with a Psychological and Anthropological Analysis, 16 Bde., Chicago, Ill./Los Angeles, Calif., 1950–1957; ders.: The Impact of Catastrophe I. Assessment and Evaluation, in: The Journal of Psychology 38 (1954), 3–50. Die Verbrechen während des Zweiten Weltkrieges begriff er als menschengemachte Katastrophe mit traumatischen Folgen. Im Gegensatz zu den survivor historians der Historischen Kommissionen, die in den DP-Camps teilweise zeitgleich zahlreiche schriftliche Interviewprotokolle angefertigt hatten, wollte Boder weder die jüdische Leidensgeschichte während des Krieges dokumentieren noch Beweise für eine Strafverfolgung der Täter sammeln. Seine wortwörtlich aufgezeichneten Audio-InterviewsDank der Digitalisierung von Boders fragilen Drahtspulen an der Paul V. Galvin Library in Chicago stehen seine Aufnahmen seit Anfang der 2000er Jahre auf der Website Voices of the Holocaust für die Öffentlichkeit zur Verfügung, < http://voices.iit.edu/> (25. Juni 2020). und anschließenden Forschungen zum Trauma grenzen sein Projekt daher von anderen Pionierforschungen zum Holocaust ab.Elisabeth Gallas: Frühe Holocaustforschung in Amerika. Dokumentation, Zeugenschaft und Begriffsbildung, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts 15, 2016, 535–569, hier 555 f.