Im Herbst 1933 richtete die Women’s International Zionist Organization (WIZO) in Prag eine Veranstaltungsreihe unter dem Titel »Juden in der Literatur« aus. Die Vorträge fanden zu einem Zeitpunkt statt, als in NS-Deutschland staatliche Repressionen gegen Jüdinnen und Juden massiv zunahmen. Prag war dadurch zu einem wichtigen Ziel für Flüchtende geworden – insbesondere für jüdische Intellektuelle, denen die Presse- und Verlagslandschaft in der tschechoslowakischen Hauptstadt Verdienstmöglichkeiten bot. Angesichts der bedrohlichen Entwicklung nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten sollten die Referenten (zu denen neben Max Brod und Alfred Wolfenstein auch Heinz Politzer, Felix Weltsch und Hermann Grab gehörten) jüdische Thematiken in den Werken Gustav Landauers, Franz Kafkas, Spinozas sowie Marcel Prousts ins Bewusstsein rufen. Es wurden also Schriftsteller als Vertreter jüdischer Literatur deklariert, die selbst mit ihrem Judentum gehadert hatten, und deren Œuvres nun Antworten auf die derzeitige Lage liefern sollten.
Eine solche Einschreibung vollzog auch der Prager Schriftsteller und Musiker Hermann Grab in seinem Vortrag über Marcel Proust (1871–1922) am 18. Oktober 1933. Für die Zeitgenossen war der französische Literat kein Unbekannter, wenngleich jüdische Aspekte in dessen zwischen 1906 und 1922 entstandenen siebenbändigen Hauptwerk À la recherche du temps perdu (Auf der Suche nach der verlorenen Zeit) bis dato unberücksichtigt geblieben waren. Grab legte hingegen dar, man »[finde] Jüdisches bei Proust schon in der ursprünglichsten Form«. Der 1903 geborene Hermann Grab arbeitete zu dieser Zeit als Musikkritiker beim Prager Montagsblatt und hatte im Vorjahr Der Stadtpark abgefasst, in dem viele eine Adaption von Prousts Werk erkannt hatten. Der Erstlingsroman erschien 1935 und war der Beginn einer kurzen literarischen Karriere, die 1939 mit seiner Flucht aus Prag über Paris und Lissabon nach Amerika abbrach. Nachdem Grabs Eltern seine Konversion zum Katholizismus im Jugendalter veranlasst hatten, nahm er als Dreißigjähriger den Vortrag zum Anlass, sich eingängiger mit seinem Verhältnis zum Judentum zu beschäftigen. Mit Proust fiel seine Wahl auf ein damals nicht naheliegendes Beispiel für »Juden in der Literatur«.Heute ist das Sujet weitaus weniger bemerkenswert. Im Jahr 2019 veranstaltete die Marcel-Proust-Gesellschaft zum Beispiel ein Symposium zu dem Thema »Marcel Proust und das Judentum« in Berlin: <https://literaturwissenschaft-berlin.de/events/marcel-proust-und-das-judentum/> (2. September 2021).