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Blog der Doktorandinnen und
Doktoranden am Dubnow-Institut

Momente der Unbeschwertheit

Walter Frankensteins Sportfotografien aus dem Baruch Auerbach’schen Waisenhaus, 1936–1942

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Mehr als dreihundert Fotos von Walter Frankenstein sind im Jüdischen Museum Berlin überliefert. Auf den meisten von ihnen sind Kinder abgebildet, die einem gemeinschaftlichen Alltag nachgehen. Sie sitzen zusammen im Schulunterricht oder im Speisesaal, sie spielen miteinander Schach oder Theater, feiern gemeinsam Chanukka. Gelegentlich machen sie Ausflüge ins Grüne. Der Großteil dieser Bilder entstand von Mitte der 1930er bis Anfang der 1940er Jahre in den Baruch Auerbach’schen Waisen-Erziehungs-Anstalten, einem jüdischen Kinderheim im damaligen Berliner Bezirk Prenzlauer Berg.

Frankenstein war gerade zwölf Jahre alt, als er 1936 zu den »Auerbachern« kam, wie sich die Zöglinge selbst nannten. Aufgewachsen im westpreußischen Flatow, hatte er seinen Vater bereits im Alter von fünf Jahren verloren. Auf Druck der mehrheitlich nationalsozialistischen Gemeinde musste Frankenstein 1936 die örtliche Volksschule verlassen, was die Mutter zwang, einen neuen Wohnort für ihren Sohn zu finden. Als einziger unter den Kindern, der eine Kamera besaß, begann er bald, das Leben im Heim festzuhalten. Die Aufnahmen sind heute noch erhalten, weil Frankenstein sie vergrub. 1943 ging er mit seiner Frau und seinem neugeborenen Sohn in den Berliner Untergrund, wo er unter falschem Namen Krieg und Naziterror überlebte. Nach der Befreiung konnte er die Fotografien wieder bergen, nahm sie mit nach Palästina, später nach Schweden und stellte sie in einem Album zusammen.

In ihrer Gesamtschau ergeben die Bilder das Portrait einer geschlossenen und zugleich eingeschlossenen jüdischen Gemeinschaft inmitten des nationalsozialistischen Berlins. Man müsse es sich wie eine »Schutzinsel« vorstellen, erinnerte sich Frankenstein an das Leben dort. Sein Blick richtete sich vorwiegend auf scheinbar Lapidares, auf das normale Leben der Bewohnerinnen und Bewohner, auf die Lehrkräfte und das Personal. Er hielt die Räumlichkeiten des Waisenhauses fest, Momente des Alltags und der Unbeschwertheit. Es sind die Fotos eines Jungen, der seine Umgebung durch die Kameralinse erkundete, und gerade der neugierige Blick auf das Hier und Jetzt macht sie zu einer wertvollen Quelle. In ihrer Unmittelbarkeit geben die Fotos Einblick in die Aufrechterhaltung und Gestaltung von Normalität inmitten einer Atmosphäre ständiger äußerer Bedrohung.

Kaum ein Motiv ist so eingehend und umfassend festgehalten wie der Sport. Ganze 25 Bilder thematisieren sportliche Ereignisse. Wenn sich die Gemeinschaft im Innenhof des Heims versammelte, um Wettkämpfe auszutragen, war die Kamera ein ständiger Begleiter. Unter den Bildern finden sich Aufnahmen von Völkerballspielen, Leichtathletikturnieren, Boxkämpfen oder gymnastischen Übungen. Es waren Fixpunkte des Heimalltags, die als solche Eingang in die Sammlung fanden und zugleich über sie hinausweisen. Auch wenn die Sportfotos ein integraler Bestandteil der Auerbach’schen Bilderwelt sind und der Sport aus dem Alltag der Kinder nicht wegzudenken war, deuten sie auf einen anderen Referenzrahmen als den der Freizeitgestaltung. Zwei Sportfotografien mögen das illustrieren.

Walter Frankenstein (geb. 1924) beim Weitsprung im Hof des Auerbach´schen Waisenhauses, Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2008/311/42/004, Schenkung von Leonie und Walter Frankenstein.
Walter Frankenstein (geb. 1924) beim Weitsprung im Hof des Auerbach´schen Waisenhauses, Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2008/311/42/004, Schenkung von Leonie und Walter Frankenstein.
Zöglinge des Auerbach´schen Waisenhauses beim Fußballspielen, Berlin-Prenzlauer Berg zwischen 1936 und 1942, Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2008/311/42/005, Schenkung von Leonie und Walter Frankenstein.
Zöglinge des Auerbach´schen Waisenhauses beim Fußballspielen, Berlin-Prenzlauer Berg zwischen 1936 und 1942, Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2008/311/42/005, Schenkung von Leonie und Walter Frankenstein.

In beiden Bildern ist Frankenstein selbst zu sehen: auf dem ersten in der Luft, auf dem zweiten als einer der Feldspieler am linken Bildrand. Die sich ähnelnden Aufnahmen, deren Fotografen unbekannt sind, sind paradigmatisch für die Sportfotografien aus Frankensteins Sammlung insgesamt. Die Auswahl von Perspektive und Augenblick entsprach ganz den Vorstellungen einer gelungenen Sportfotografie, die sich ab Mitte der 1920er Jahre vor allem dadurch auszeichnete, dass sie den Sport über seine Höhepunkte repräsentierte. Herausgegriffen wurde ein Moment, der den Sport wesentlich charakterisiert: Augenblicke der Spannung, die den Vergleich voraussetzen, das Messen von Kräften und Fähigkeiten, kurzum: der Wettkampf. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus der englischen leisure culture übernommen, galt der Wettkampfsport in Deutschland vor allem als leistungs- und vergnügungsbestimmte Alternative zum etablierten Turnerwesen. Während Letzteres stets das Kollektivistische und Gleichförmige, ja Gleichartige betonte, stellte der Sport das Kompetitive, Individualistische und die Differenzen untereinander in den Mittelpunkt. Eben hierin lag auch sein soziales Integrationsversprechen. Gerade für Jüdinnen und Juden bot der Sport so eine Bühne gesellschaftlicher Teilhabe.

Die Bilder nehmen dies auf und übertragen es in den Kontext fotografischer Dokumentation. Aus nächster Nähe versuchen sie, aus der Untersicht jene Wettkampfmomente einzufangen, in denen sich der Weitspringer oder der Ball gerade in der Luft befindet und nicht absehbar ist, wann und wo sie aufkommen. Die Sportfotos gleichen kompositorisch ihren zeitgenössischen publizistischen Vorbildern. Sie unterscheiden sich aber gerade dadurch von den übrigen Fotografien der Sammlung. Sie bezeugen, ja sie konstituieren die erfolgreiche Aufführung eines sportlichen Wettkampfes per se. Damit reklamieren sie eine Normalität, die nach 1933 auch im Sport fragil, wenn nicht gar unmöglich geworden war. Einstmals Plattform sozialer Integration, hatte sich der Sport binnen kürzester Zeit in eine Sphäre radikaler Exklusion gewandelt. Jüdinnen und Juden trieben zwar weiterhin Sport – tatsächlich blühte der jüdische Sport institutionell erst nach 1933 auf –, doch taten sie dies nun zwangsläufig als Jüdinnen und Juden und in strikter Trennung von der Mehrheitsgesellschaft. Ihre Ausgrenzung im Sport vollzog sich über den Ausschluss von der kompetitiven Leistungsbewertung.

Dies war der Hintergrund, vor dem die Sportbilder entstanden und über den sie sich gleichsam hinwegsetzten, weil sie einen universellen Kern festzuhalten suchten: die über den Vergleich geschaffene Zugehörigkeit. Indem die Bilder den Konventionen des Genres entsprachen, ja ganz so aussahen, wie ein idealtypisches Sportfoto auszusehen hatte, stellten sie einen Bezug zur Idee des Sports her, die jenseits exkludierender Differenzmarkierungen lag. Innerhalb von Frankensteins Album nehmen Sportaufnahmen damit nicht nur quantitativ einen besonderen Platz ein. Während das Waisenhaus auf den meisten Bildern gerade durch die Darstellung des Gewöhnlichen als außergewöhnlicher Ort erscheint, verhält es sich bei ihnen genau umgekehrt. Indem sie den Sport auf möglichst spektakuläre und damit normierte Art festhalten, erscheint das Heim als geradezu herkömmlich, seine Gemeinschaft als eine unter vielen. Für die Auerbacher stellten die Bilder so die Anbindung an ein Außen dar, das ihnen anderweitig längst verwehrt war.

Robert Mueller-Stahl ist assoziierter Doktorand am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam. In seiner Dissertation, die von der German-Israeli Foundation for Scientific Research and Development gefördert wird, untersucht er deutsch-jüdische Privatfotografien, allen voran Fotoalben, zwischen 1928 und 1938 | mueller-stahl(at)zzf-potsdam.de

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