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Blog der Doktorandinnen und
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Parallele Welten

Jüdisches Musikleben im nationalsozialistischen München

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»Insel«, »Oase«, »Zuflucht«, »Hort des Widerstands«, »Gefängnis«, »geistiges Ghetto« … Diese und ähnliche, unverkennbar gegensätzlichen Raummetaphern prägen zeitgenössische Berichte zum jüdischen Musik- und Theaterleben im Nationalsozialismus. Semantiken des Abgeschlossenen und Beengten, aber auch der Entgrenzung und des Rückzugs sowie des Subversiven und Widerständigen stehen in ihrer Raumbezogenheit stellvertretend für jüdische Alltagserfahrungen in der NS-Diktatur. Diese waren die Folge einer immer strikteren Reglementierung des öffentlichen Raums, durch die Jüdinnen und Juden nach dem Willen der Nationalsozialisten vollständig aus der Gesellschaft gedrängt werden sollten.

Kulturelle Aktivitäten, wie sie seit Sommer 1933 etwa vom Kulturbund Deutscher Juden (ab 1935 bis zu seiner Auflösung 1941 Jüdischer Kulturbund in Deutschland) organisiert wurden, verschafften demgegenüber den zu Hunderten entlassenen jüdischen Künstlerinnen und Künstlern Verdienstmöglichkeiten, die ihnen auf den herkömmlichen Bühnen fortan verwehrt blieben. Dem Publikum wiederum boten die Kulturbund-Veranstaltungen, die in Synagogen, Gaststätten, Privathäusern oder Turnhallen, in größeren Städten bisweilen in eigens angemieteten Theatern stattfanden, Rückzugsräume vor einer zunehmend durch Gewalt geprägten Öffentlichkeit. Die Machthaber nutzten den Kulturbund dagegen ihrerseits als Kontroll- und Verfolgungsinstrument, mit dem sie jüdische Aktivitäten überwachen konnten. Bis heute wird der Kulturbund daher ambivalent bewertet.

Fassadenansicht des Palais Portia (»Museum«) in München aus dem Jahr 1891, Promenadestraße 12 (heute: Kardinal-Faulhaber-Straße), © Otto Aufleger, Wikimedia Commons (gemeinfrei).
Fassadenansicht des Palais Portia (»Museum«) in München aus dem Jahr 1891, Promenadestraße 12 (heute: Kardinal-Faulhaber-Straße), © Otto Aufleger, Wikimedia Commons (gemeinfrei).

Einer der wichtigsten Orte für das jüdische Musikleben in München war, neben der Hauptsynagoge in der Herzog-Max-Straße, das sogenannte Museum im Palais Portia, ein barockes Stadtpalais inmitten der Münchner Innenstadt. Das »Museum« war nach der darin residierenden, gleichnamigen literarischen Gesellschaft benannt und verfügte über einen großen Konzert- und Ballsaal sowie einen kleineren Vortragsraum. Der Konzertsaal wurde von der lokalen Musikszene für seine hervorragende Akustik geschätzt. Aufgrund schwindender Mitgliedereinnahmen und hoher Instandhaltungskosten sah sich die »Museums«-Gesellschaft im Jahr 1934 allerdings gezwungen, das Palais an die benachbarte, private Bayerische Vereinsbank zu veräußern. Während frühere Kaufversuche der Bank auf starke Proteste der Presse und der Münchner Bevölkerung gestoßen waren, die das historisch bedeutsame Palais lieber in der Obhut der »Museums«-Gesellschaft als in den Händen eines Geldinstituts sahen, war es ironischerweise nun die Bank, die das Gebäude mit seinem Konzertsaal nach dem Erwerb umgehend renovierte und die Fortsetzung des Musikbetriebs sicherte – und damit auch die Veranstaltungen des Kulturbunds überhaupt ermöglichte.

Für die Vereinsbank, die die Säle vermietete, bedeutete der Veranstaltungsbetrieb jedoch nicht nur regelmäßige (obgleich vermutlich eher geringe) Einnahmen, sondern war auch mit Risiken verbunden. Nichtjüdische Besitzer, die ihre Räumlichkeiten dem Kulturbund zur Verfügung stellten, wurden immer wieder von den NS-Behörden bedrängt und zur Unterlassung aufgefordert. Bei der Bayerischen Vereinsbank kam hinzu, dass diese noch bis Anfang 1938 Juden in ihren Führungsgremien beschäftigte und deshalb von der Gauleitung und anderen NS-Funktionären in München ab Mitte der 1930er Jahre mehrfach als »Judenbank« diffamiert worden war. Die Bereitstellung des »Museums« für den Kulturbund wirft ein Licht auf eine selten thematisierte, jedoch unumgängliche Vorbedingung jüdischen Kulturlebens im NS-Staat: Es mussten sich immer Gebäudeeigentümer, Gaststättenbesitzer oder Privatpersonen finden, die bereit waren, ihre Räumlichkeiten für derartige Veranstaltungen zur Verfügung zu stellen. Vermieter, bei denen es sich wie im Fall der Vereinsbank um nichtjüdische Institutionen handelte, verdienen hierbei besondere Beachtung.

Abgesehen von der an sich schon bemerkenswerten Vermietung des Saales an den Kulturbund ist hier aber noch ein anderer Aspekt von Bedeutung. Neben Kulturbund-Veranstaltungen wurde das »Museum« weiterhin für eine Vielzahl nichtjüdischer Aktivitäten genutzt. Hieraus ergab sich ein enges Nebeneinander mitunter sehr unterschiedlicher Träger: So richtete der Kulturbund am 8. November 1934 im großen Saal des »Museums« einen Rezitations- und Gedenkabend zu Ehren des wenige Monate zuvor verstorbenen Dichters Chaim Nachman Bialik aus. Wie bei allen Kulturbund-Veranstaltungen war auf behördliche Anordnung ausschließlich jüdisches Publikum zugelassen. Musikalisch umrahmt wurde der Abend von dem Münchner Tenor Ernst Mosbacher sowie dem Dirigenten und Pianisten Erich Erck. Zur selben Zeit fand den Münchner Neuesten Nachrichten zufolge im kleinen Saal ein Vortrag mit dem Titel »Gegenwartsbetrachtungen« des Schriftstellers und ehemaligen Pastors Georg Schott statt, der bereits 1924 eine Hitler-Biografie vorgelegt hatte und sich offen als Anhänger völkisch-antisemitischer Positionen zu erkennen gab.

Grundriss des zweiten Stockwerks des »Museums« um 1901. Abgedruckt in Hans Reidelbach, Georg Jacob Wolf (Hg.), Die Gesellschaft Museum in München. Festschrift zur Hundertjahr-Feier 1802–1902, München 1902.
Grundriss des zweiten Stockwerks des »Museums« um 1901. Abgedruckt in Hans Reidelbach, Georg Jacob Wolf (Hg.), Die Gesellschaft Museum in München. Festschrift zur Hundertjahr-Feier 1802–1902, München 1902.

Was dieses Nebeneinander in räumlicher Hinsicht bedeutete, wird erst mit Blick auf den Grundriss des »Museums« deutlich: Wenige Meter entfernt, lediglich durch einen schmalen Vorsaal voneinander getrennt und nur über ein gemeinsames Treppenhaus zu erreichen, ereignete sich hier jüdisches Kulturleben buchstäblich an der Schwelle der nationalsozialistischen »Volksgemeinschaft«. Zweifellos musste eine solche Ausgrenzung auf engstem Raum dem jüdischen Publikum den erzwungenen Ausschluss aus der deutschen Gesellschaft umso stärker vor Augen führen. Umgekehrt ist aber auch davon auszugehen, dass die Besucher beider Veranstaltungen in den Räumlichkeiten des »Museums« aufeinandertrafen, was die staatlich erzwungene Abtrennung zumindest ansatzweise infrage stellte.

War es in den ersten Jahren der NS-Herrschaft das ausgesprochene Ziel der Machthaber, Juden in Deutschland vollständig aus der Öffentlichkeit zu verbannen, so zeigt das Beispiel des »Museums«, dass dieses zumindest bis Ende 1938, als weite Teile des Kulturbunds aufgelöst und die ersten sogenannten »Judenhäuser« errichtet wurden, noch nicht erreicht war. Demgegenüber legen die von jüdischen Zeitgenossen verwendeten Begriffe wie »Insel« oder »geistiges Ghetto« für Kulturbund-Veranstaltungen nahe, diese seien hermetisch von der Außenwelt abgegrenzt gewesen. Tatsächlich existierten in der Realität für längere Zeit noch Überschneidungsflächen und Kontaktzonen zwischen jüdischen und nichtjüdischen Lebenswelten im NS-Staat: parallele Welten im gemeinsamen öffentlichen Raum.

Dr. Tobias Reichard ist Musikwissenschaftler und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Ben-Haim-Forschungszentrum der Hochschule für Musik und Theater München. Dort untersucht er die Geschichte und Musik verfolgter Komponistinnen und Komponisten sowie die jüdische Musikkultur vor, während und nach der Zeit des Nationalsozialismus mit Schwerpunkt auf den süddeutschen Raum | tobias.reichard(at)hmtm.de

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