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Doktoranden am Dubnow-Institut

Permanentes Exil

Leo Löwenthal gratuliert Manfred George zum 60. Geburtstag

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Kurz nachdem Leo Löwenthal im November 1953 von einer mehrwöchigen Europareise nach New York zurückgekehrt war, widmete er sich der Lektüre sämtlicher Nummern der deutschsprachigen jüdischen Emigrantenzeitung Aufbau, die während seiner Abwesenheit erschienen waren. Die in der Ausgabe vom 23. Oktober unter der Überschrift »Aufbau« and its Editor veröffentlichten Glückwünsche machten ihn darauf aufmerksam, dass der Chefredakteur des Blattes, Manfred George, kürzlich Geburtstag gefeiert hatte. Löwenthal hatte daraufhin das Bedürfnis, dem 1893 in Berlin als Manfred Georg Cohn geborenen Journalisten seine »herzlichsten Glückwünsche« zu übermitteln; »egoistisch« wünschte er ihm »noch sehr viele Jahre des ›Aufbaus‹«.

Der Aufbau war im Dezember 1934 anlässlich des zehnjährigen Bestehens des German-Jewish Club gegründet worden. Als »mittelbare Verbindung zwischen Leitung und Mitgliedschaft« sollte er ursprünglich zu dessen weiterem »Aufbau« beitragen. Seit Mitte der 1930er Jahre wurden jedoch die organisatorischen und finanziellen Ressourcen der Zeitung und des Klubs zunehmend zur ideellen und materiellen Unterstützung der nach Amerika geflohenen deutschsprachigen Juden verwendet; von nun an sollte ihnen beim »Aufbau« einer neuen Existenz geholfen werden. Ganz in diesem Sinne bestand die Aufgabe der im Juni 1937 eröffneten ständigen Geschäftsstelle darin, »neben der Stellenvermittlung auch als Zentrale in Fragen der Zimmerbeschaffung, der Einwanderung, der Ausfüllung von Bürgerpapieren usw. zu dienen«.

Zwar war Löwenthal bereits im Sommer 1934 und damit vor Gründung des Aufbau in die Vereinigten Staaten emigriert. Im Zuge seiner Tätigkeit als verantwortlicher Schriftleiter der Zeitschrift für Sozialforschung erreichten ihn jedoch in den 1930er und zu Beginn der 1940er Jahre immer wieder Hilfegesuche von deutschsprachigen Intellektuellen, die sich hinsichtlich einer möglichen Einwanderung nach Amerika erkundigten und nach finanzieller oder anderweitig lebenspraktischer Unterstützung fragten. Auch wenn er bei der Bearbeitung dieser Anfragen auf Erfahrungen zurückgreifen konnte, die er zwischen November 1922 und Mai 1924 als Syndikus der Beratungsstelle für ostjüdische Flüchtlinge in Frankfurt am Main gesammelt hatte, wusste er mitunter nicht, was er antworten sollte. In solchen Fällen beriet er sich u. a. mit George, der für ihn eine »unentbehrliche und höchstgeschätzte Hilfe« darstellte.

Brief von Leo Löwenthal an Manfred George vom 15. November 1953.
Leo Löwenthal an Manfred George vom 15. November 1953, in: Deutsches Literaturarchiv Marbach, 75.3198/2.
Brief von Leo Löwenthal an Manfred George vom 15. November 1953.
Leo Löwenthal an Manfred George vom 15. November 1953, in: Deutsches Literaturarchiv Marbach, 75.3198/2.
Grafik: Die Auflage des Aufbau zwischen 1934 und 2009.
Elke-Vera Kotowski (Hg.), Aufbau. Sprachrohr. Heimat. Mythos. Geschichte(n) einer deutsch-jüdischen Zeitung aus New York 1934 bis heute, Berlin 2011, 66.

Auch in persönlicher Hinsicht war die Arbeit Georges für Löwenthal von großer Bedeutung gewesen. So konnte er etwa einer kleinen Traueranzeige, die anlässlich des ersten Todestags von Agnes Jungmann am 5. November 1943 im Aufbau erschienen war, nicht nur die aktuelle Londoner Adresse ihrer Tochter, Eva G. Reichmann-Jungmann, entnehmen. Er hatte dieser Annonce, so sehr ihr Anlass ihn erschütterte, auch die Gewissheit zu verdanken, dass es seiner Heidelberger Studienfreundin Eva – anders als ihrer Mutter – gelungen war, das nationalsozialistische Deutschland noch rechtzeitig zu verlassen, wie er ihr nach Jahren der Ungewissheit erleichtert nach England schrieb.

Dennoch scheint der egoistische Charakter von Löwenthals Wunsch angesichts des Zeitpunktes erstaunlich. Der Zweite Weltkrieg war seit acht Jahren vorüber und Löwenthal bereits seit viereinhalb Jahren wieder für die amerikanische Regierung tätig. Die Europareise, von der er 1953 nach New York heimkehrte, war bereits seine dritte seit Kriegsende. Schon in den Jahren 1949 und 1951 hatte er sich als Leiter der Program Evaluation Branch des Radiosenders Voice of America vier beziehungsweise sechs Wochen lang in Europa aufgehalten. Dass sich Löwenthal im Anschluss an diese dritte Reise umgehend der Lektüre einer deutschsprachigen jüdischen Emigrantenzeitung widmete, dürfte auch daran gelegen haben, dass sich das Ende seiner Tätigkeit für den bis kurz zuvor dem State Department unterstellten Radiosender abzeichnete.

Mit Beginn der Präsidentschaft Dwight D. Eisenhowers 1953 hatte sich das amerikanische Verständnis von geheimdienstlicher Tätigkeit noch einmal gewandelt. Trug noch in der ersten Hälfte der 1940er Jahre die Erweiterung der intelligence-Arbeit um research dazu bei, das Misstrauen der Amerikaner gegenüber Spionage und anderen als »unamerikanisch« geltenden Aktivitäten abzubauen, so geriet nun ausgerechnet der Bereich research als kostspielig und ineffektiv in Verruf. Bereits in den Jahren zuvor war der Konflikt um die Frage, ob Geheimdienstarbeit vorwiegend surveillance oder research sein sollte, reaktiviert worden. Hinzu kam, dass die Voice of America in die »domestic propaganda battles«David F. Krugler, The Voice of America and the Domestic Propaganda Battles, 1945–1953, Columbia 2000, 3. des Kalten Krieges geraten war: Der Radiosender wurde beschuldigt, den Interessen der Demokraten und nicht denen Amerikas zu dienen, und daher im August 1953 der neu gegründeten U. S. Information Agency unterstellt. An der Arbeit von Löwenthals Forschungsabteilung war man nicht länger interessiert; sie sollte aufgelöst werden.

Doch auch wenn der anhebende Kalte Krieg Löwenthal zumindest bis dahin die Möglichkeit geboten hatte, im Dienst der amerikanischen Regierung eigene intellektuelle Vorhaben und Ziele zu verfolgen, dürfte bereits in jener Zeit sein Status prekär gewesen sein. Als linker Jude deutscher Herkunft und als Wissenschaftler, der keine diplomatische Ausbildung vorzuweisen hatte, erschien er sehr wahrscheinlich seinen Kollegen im State Department als eine ähnliche »organisatorische Bedrohung« wie Franz Neumann, Otto Kirchheimer und Herbert Marcuse den Ihrigen.»Es war eine Sackgasse – und doch ist es wert, erinnert zu werden!« Interview mit Prof. H. Stuart Hughes am 6. Dezember 1983 in La Jolla/Californien, in: Alfons Söllner (Hg.), Zur Archäologie der Demokratie in Deutschland, Bd. 2: Analysen von politischen Emigranten im amerikanischen Geheimdienst 1946-1949. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Sabine Gwinner, Manfred Paul Buddeberg und Niko Hansen; Frankfurt am Main 1986, 46–58, hier 48.

Seit sich die Neugründung des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt am Main und damit ein Ende von Löwenthals Verbleib auf der »deutsche[n], radikal-intellektuelle[n] Insel«Leo Löwenthal, Mitmachen wollte ich nie. Ein autobiographisches Gespräch mit Helmut Dubiel, Frankfurt a. M. 1980, 76. abzeichnete, die das Institut für ihn in Amerika darstellte, verschaffte sich seine Exilerfahrung zunehmend Geltung. »Permanentes Exil« war nicht nur jene Formulierung, an die Martin Jay ursprünglich für seine Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für Sozialforschung 1923–1950 gedacht hatte und die von Löwenthal und dem ebenfalls in den Vereinigten Staaten gebliebenen Marcuse unterstützt worden war. Es war auch eine der Ideen Löwenthals für den Titel seines autobiografischen Gesprächs, das 1980 schließlich als Mitmachen wollte ich nie erschien. Der Aufbau wiederum war unter der Leitung Georges zum »Sprachrohr der deutschsprachigen Judenheit Amerikas« geworden. Und mit ihm als Chefredakteur sollte er es nach Ende des Zweiten Weltkrieges insbesondere für jene bleiben, die wie Löwenthal nicht in ihre Herkunftsländer zurückkehrten.

Doris Maja Krüger ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Axel Springer-Lehrstuhl für deutsch-jüdische Literatur- und Kulturgeschichte, Exil und Migration sowie wissenschaftliche Koordinatorin des DFG-Forschungsprojekts »Digitales Archiv jüdischer Autorinnen und Autoren in Berlin 1933–1945« an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder). Sie arbeitet an einer Biografie Leo Löwenthals | mkrueger(at)europa-uni.de

Beitragsbild und Grafik zur Auflage des Aufbau verwenden wir mit freundlicher Genehmigung von Peter-Erwin Jansen, Elke-Vera Kotowski und dem Verlag Hentrich&Hentrich.

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