In Heideggers Hinwendung zur Sprache war nicht nur seine Abneigung gegen die akademische Philosophie samt ihren Sprachformen zum Ausdruck gekommen, sondern auch die Auffassung, die Dichtung könne dem Sein zur Sprache verhelfen. In seinem einflussreichen Opus magnum Sein und Zeit von 1927 hatte er die menschliche Geschichte als eine des Verfalls und der »Seinsvergessenheit« beschrieben. Zentral für seine Philosophie, so drückte es Günther Anders an anderer Stelle aus, sei »der Schock, dass es etwas gibt«, der vor allem bei seinen Lesern und Leserinnen den Charakter eines »philosophischen Ereignis[ses]« annehme.So formulierte es Anders in einem Radiogespräch über den Philosophen; Günther Anders/Max Bense, Gespräch über Martin Heidegger (ausgestrahlt im Süddeutschen Rundfunk am 1. Oktober 1953), in: Heidegger Verstehen. Vorträge und Gespräche in Originalaufnahmen, CD 1, München 2009. Nicht nur die heideggersche Überhöhung des Dichtens als »echtes Denken« stieß bei Anders auf Widerspruch, stellte er sich nach dem Zweiten Weltkrieg doch selbst die Frage, ob Dichtung überhaupt eine angemessene Form sei, auf die Welt nach der Katastrophe zu reagieren.Vgl. hierzu Günther Anders, Dichten heute. Aus Tagebüchern, in: Die Wandlung. Eine Monatsschrift 5 (1949), H. 1, 40–55. Dies ist der erste Artikel, den Anders noch aus dem amerikanischen Exil heraus im Nachkriegsdeutschland veröffentlicht. Er bemängelte in seinem Brief an Sartre zudem Heideggers historischen Eskapismus. Es sei »außerordentlich bezeichnend«, so ist hier zu lesen, »daß keiner der Wenn-Sätze einen geschichtlichen Augenblick angibt (etwa: ›wenn unsere Städte in Schutt liegen‹ oder dergleichen), sondern ausschließlich Naturaugenblicke«.
Im amerikanischen Exil hatte sich Anders exzessiv und kritisch mit Heidegger, vor allem mit dessen bedeutsamem Hauptwerk Sein und Zeit auseinandergesetzt.Diese wurden erstmals 2001 von Anders’ Nachlassverwalter Oberschlick ediert und publiziert: Günther Anders, Über Heidegger, hg. von Gerhard Oberschlick, München 2001. Er hatte in den Zwanzigerjahren gemeinsam mit Hannah Arendt und Hans Jonas bei Heidegger studiert. Die Existenzialontologie war ihnen gerade in ihrer Hinwendung zur faktischen Existenz als eine faszinierende philosophische Reaktion auf die krisenhaften Weimarer Jahre erschienen. Dass ihr Urheber sie später mit dem nationalsozialistischen Tatdenken übereinzubringen vermochte, zwang in besonderem Maße seine jüdischen Schüler sowohl zu einer kritischen Bestandsaufnahme ihres persönlichen Verhältnisses als auch zu philosophischer Abgrenzung. Wie ernst es Anders mit seiner eigenen »Deheideggerisierung« war, dokumentieren mehrere Hundert Seiten umfassende Manuskripte und Typoskripte, in denen Anders gerade daran gelegen war, den »geschichtlichen Augenblick« zu bestimmen, in dem Heideggers Philosophie so populär werden konnte – er liest ihn in seinem philosophiehistorischen und sozioökonomischem Kontext. In gebündelter Form erscheinen einige Gedanken aus diesen Konvoluten in zwei Aufsätzen. In On the Pseudo-Concreteness of Heidegger’s Philosophy von 1948 kontrastierte Anders die zentralen Begriffe Heideggers mit einer materialistischen Bedürfnistheorie. Im zwei Jahre zuvor erschienenen Nihilismus und Existenz wollte er zeigen, »daß, was als Neubeginn positiver Metaphysik sich anpreist, die letzte, verbrämte Ausformung […] [des] Nihilismus ist«. Er verortete hier die Ursprünge von Sein und Zeit »im Schatten des ersten Nachkrieges« und fragt, wie die Fundamentalontologie schließlich ein »europäisches Ereignis […] in den Trümmerstätten des zweiten« hatte werden können. Die begeisterte Rezeption unter linken Intellektuellen in Frankreich verstand er als Rückzug auf den »›furchtbaren Ernst der eigenen Existenz‹« nach dem Zerfall der Résistance und als Flucht vor den politischen Aufgaben der Nachkriegssituation.Günther Anders, Nihilismus und Existenz (1946), in: Nihilismus und Existenz (1946), in: Günther Anders, Über Heidegger, hg. von Gerhard Oberschlick, München 2001, 39–71, hier: 41; Jean Améry, mit dem Anders in schriftlichem Austausch stand, schrieb in Geburt der Gegenwart, die Résistance habe dem französischen Individuum »zum ersten Mal seit Verdun eine grandiose Chance zur Selbstverwirklichung gegeben«. Und in Unmeisterliche Wanderjahre war zu lesen: »In der Sartre’schen Philosophie erkannte die Résistance sich wieder oder wollte jedenfalls in ihr sich finden.« Zit. nach Birte Hewera, »… daß das Wort nicht verstumme«. Jean Amérys Kategorischer Imperativ nach Auschwitz, Marburg 2015. 185 f. Nicht nur aufgrund der zeitkritischen Befragung der heideggerschen Kategorien, sondern auch mit Blick auf ihren Umfang ist Andersʼ Kritik bemerkenswert. Sie ist jedoch weitestgehend vergessen.
Während seine Artikel gewissermaßen an der Peripherie, in einer schwedischen und einer amerikanischen Zeitschrift, erschienen waren, spielte sich 1946/1947 in Les Temps Modernes eine erste hitzige Debatte um die Rehabilitation von Heideggers Person und Philosophie ab.Die Debatte war von zwei Beiträgen von Frédéric de Towarnicki, einem Offizier der französischen Militärregierung, und dem Philosophen Maurice de Gandillac ausgelöst worden. De Towarnicki hatte Heidegger eine Einladung ins militärische Hauptquartier nach Baden-Baden verschafft, wo er mit Jean-Paul Sartre zusammentreffen sollte. Anders war an dieser Debatte nur indirekt beteiligt. Der Philosoph Karl Löwith hatte ihn für die Übersetzung seiner Erwiderung auf de Torwarnicki angefragt, in der er explizit den Zusammenhang von Heideggers Philosophie und dem Nationalsozialismus erörterte. Mit der Auswahl seiner Tagebuchnotizen Ruinen heute/Ruines aujourd’hui zur Veröffentlichung in den Temps Modernes, in denen er die Trümmerlandschaften der Nachkriegszeit beschreibt und Fragen von Moral und Schuld sowie historische Kausalitäten erörtert, scheint Anders den besonderen historischen Rezeptionskontext von Heideggers Schriften noch einmal aufrufen zu wollen. Treffenderweise beginnen die Passagen im zerstörten Freiburg, wo Anders in den 1920er Jahren erstmals die Vorlesungen Martin Heideggers besucht hatte.