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Blog der Doktorandinnen und
Doktoranden am Dubnow-Institut

Unerwartete Wendung

Australiens Einwanderungspolitik und die Konferenz von Évian 1938

von

Thomas Walter White, der Vertreter Australiens auf der internationalen Flüchtlingskonferenz, gab am Nachmittag des 7. Juli 1938 in Évian während einer öffentlichen Sitzung die Erklärung seiner Regierung ab. Seine Äußerung »Da wir kein wirkliches Rassenproblem haben, sind wir nicht gewillt, uns eines zu importieren« wurde zur negativen Ikone. In der Erinnerung an die Konferenz steht diese Aussage bis heute Pars pro Toto für das Versagen der westlichen Staatenwelt im Angesicht der Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden. Antisemitismus, Xenophobie und Gleichgültigkeit gegenüber ihrem Schicksal dominierten dieser Lesart zufolge die Haltung der Diplomaten. In der Tat handelten die in Évian vertretenen Regierungen im Sommer 1938 in Flüchtlingsfragen aus einer national-egoistischen Grundeinstellung heraus. Die europäischen Regierungen waren aufgrund der deutschen Aggression vor allem von sicherheitspolitischen Erwägungen geleitet und orientierten sich an den einwanderungsskeptischen Positionen ihrer nationalen Bevölkerungen. Den Staaten Lateinamerikas oder Australien lagen die europäischen Probleme fern. Öffentliche Erklärungen wie jene von White adressierten daher auch weniger die von den Nationalsozialisten Verfolgten, als vielmehr das heimische Publikum.

JDC Archives, New York Office Collection 1933–1944, 255, A. G. Brotman an Neville Laski und Jonah B. Wise, »Inter-Governmental Conference on Refugees Held at Evian« (Confidential), 6. Juli 1938.
JDC Archives, New York Office Collection 1933–1944, 255, A. G. Brotman an Neville Laski und Jonah B. Wise, »Inter-Governmental Conference on Refugees Held at Evian« (Confidential), 6. Juli 1938.
JDC Archives, New York Office Collection 1933–1944, 255, A. G. Brotman an Neville Laski und Jonah B. Wise, »Inter-Governmental Conference on Refugees Held at Evian« (Confidential), 6. Juli 1938.
JDC Archives, New York Office Collection 1933–1944, 255, A. G. Brotman an Neville Laski und Jonah B. Wise, »Inter-Governmental Conference on Refugees Held at Evian« (Confidential), 6. Juli 1938.
JDC Archives, New York Office Collection 1933–1944, 255, A. G. Brotman an Neville Laski und Jonah B. Wise, »Inter-Governmental Conference on Refugees Held at Evian« (Confidential), 6. Juli 1938.
JDC Archives, New York Office Collection 1933–1944, 255, A. G. Brotman an Neville Laski und Jonah B. Wise, »Inter-Governmental Conference on Refugees Held at Evian« (Confidential), 6. Juli 1938.
JDC Archives, New York Office Collection 1933–1944, 255, A. G. Brotman an Neville Laski und Jonah B. Wise, »Inter-Governmental Conference on Refugees Held at Evian« (Confidential), 6. Juli 1938.
JDC Archives, New York Office Collection 1933–1944, 255, A. G. Brotman an Neville Laski und Jonah B. Wise, »Inter-Governmental Conference on Refugees Held at Evian« (Confidential), 6. Juli 1938.
JDC Archives, New York Office Collection 1933–1944, 255, A. G. Brotman an Neville Laski und Jonah B. Wise, »Inter-Governmental Conference on Refugees Held at Evian« (Confidential), 6. Juli 1938.
JDC Archives, New York Office Collection 1933–1944, 255, A. G. Brotman an Neville Laski und Jonah B. Wise, »Inter-Governmental Conference on Refugees Held at Evian« (Confidential), 6. Juli 1938.
JDC Archives, New York Office Collection 1933–1944, 255, A. G. Brotman an Neville Laski und Jonah B. Wise, »Inter-Governmental Conference on Refugees Held at Evian« (Confidential), 6. Juli 1938.
JDC Archives, New York Office Collection 1933–1944, 255, A. G. Brotman an Neville Laski und Jonah B. Wise, »Inter-Governmental Conference on Refugees Held at Evian« (Confidential), 6. Juli 1938.

Trotz solch reservierter Positionen bewerteten die Emissäre jüdischer Organisationen das Ergebnis der Konferenz unmittelbar nach ihrem Ende mehrheitlich positiv. Besonders die Gründung des Zwischenstaatlichen Komitees schien damals hunderttausenden Jüdinnen und Juden aus Deutschland eine realistische Perspektive auf Auswanderung zu eröffnen. Die Geschichte um Whites Aussage ist jedoch komplexer. Als der Novemberpogrom 1938 die noch wenige Monate zuvor in Évian avisierte und auf mehrere Jahre angelegte, geordnete Auswanderung aus Deutschland obsolet machte und fortan für philanthropische Hilfsorganisationen wie den Council for German Jewry oder das Joint Distribution Committee die sofortige Evakuierung im Fokus stand, stellten nur wenige Staaten unmittelbare Hilfe bereit. Zu den Ausnahmen zählte neben Großbritannien, das bis September 1939 etwa 50 000 Menschen aus dem deutschen Herrschaftsbereich Zuflucht gewährte, auch Australien.

Whites Stellungnahme in Évian wurde in der australischen Öffentlichkeit kontrovers diskutiert. Seine Fürsprecher wollten an den bisherigen restriktiven Bestimmungen festhalten, die de facto nur »Europäer«, vor allem britische Staatsbürger, ins Land ließen – vertriebene Jüdinnen und Juden galten als unerwünscht. Viele lehnten jedoch Whites Linie aus humanitären und bevölkerungspolitischen Gründen ab, verwiesen auf das historische Vorbild der Hugenotten und betonten deren wirtschaftliche Leistungen in Großbritannien und Preußen. Mit dem Novemberpogrom änderte sich der Kurs der Regierung. Der australische Dominion-Vertreter berichtete aus London von »Anstrengungen beispiellosen Ausmaßes«, jüdischen Flüchtlingen Zufluchtsmöglichkeiten zu eröffnen, und legte seiner Regierung nahe, bei diesen Bemühungen nicht abseits zu stehen. Vielmehr, so riet er, sollte die nunmehr eindeutig vorhandene Hilfsbereitschaft der australischen Bevölkerung praktische Konsequenzen haben. Am 1. Dezember 1938 erklärte die australische Regierung, in den nächsten drei Jahren bis zu 15 000 neue Einwanderinnen und Einwanderer aufnehmen zu wollen, allerdings sollten sie weiterhin sogenannte Landungsgelder zahlen oder eine wirtschaftlich gesicherte Existenz nachweisen.

Karte 13 (Australien), in: PHILO-Atlas. Handbuch für die jüdische Auswanderung. Reprint der Ausgabe von 1938 mit einem Vorwort von Susanne Urban-Fahr, Bodenheim bei Mainz 1998.
Bis Dezember 1938 war Australien für verfolgte Jüdinnen und Juden ein wenig verheißungsvolles Ziel. Karte 13 (Australien), in: PHILO-Atlas. Handbuch für die jüdische Auswanderung. Reprint der Ausgabe von 1938 mit einem Vorwort von Susanne Urban-Fahr, Bodenheim bei Mainz 1998.

Die Ankündigung, mehr Verfolgten die Einreise zu gewähren, wurde in der nationalen und internationalen Presse euphorisch begrüßt und hatte für tausende Jüdinnen und Juden aus Deutschland konkrete Auswirkungen. Zu den etwa 7 000 Menschen, die daraufhin in Australien Zuflucht fanden, gehörten auch Angehörige der deutsch-jüdischen Familie Scholem aus Berlin. Die beiden älteren Brüder Reinhold und Erich, die neben ihren in Politik und Wissenschaft bedeutenden Geschwistern Werner und Gershom heute nahezu vergessen sind, waren bereits im Juli 1938 nach Australien ausgewandert. Für die gemeinsame Mutter Betty, Erichs Ehefrau und die Kinder hatten sie keine Einreisegenehmigungen erhalten. Durch die Erhöhung der australischen Einwanderungsquote konnten aber auch sie nach Vorliegen der nötigen Garantien im Frühjahr 1939 nach Australien einwandern und damit der im Holocaust kulminierenden Verfolgung entrinnen. Whites Aussage in Évian hatte ohne jegliche Vorahnung um die späteren Verbrechen gestanden und auch die Wendung der australischen Politik hatte sie nicht erahnen lassen.

Bereits in Évian war White für seine infame Äußerung kritisiert worden. Ein nicht namentlich genannter jüdischer Emissär ging im Anschluss an die öffentliche Sitzung zu ihm und sagte, »wenn es die rassische Herkunft betrifft, haben Australier selbst wenig Grund, auf ihre eigenen Vorfahren stolz zu sein!!!« Mit seiner empörten Kritik verwies er auf die Entstehung des »weißen Australiens«: Anfang 1938 hatte das Land gerade erst mit Pomp den 150. Jahrestag der Landung der »Ersten Flotte« gefeiert, aus der die australische Gesellschaft hervorgegangen war und deren Passagiere die Keimzelle des späteren Sydney aufgebaut hatten. Damals war Australien eine Sträflingskolonie, von denen es im 18. Jahrhundert viele im Britischen Empire gegeben hatte, und die Siedler waren überwiegend Gefangene, die aufgrund ihrer Vergehen zum Tode oder zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt worden waren. White hatte in seiner Erklärung in Évian nicht nur den Zusammenhang von Kolonialismus und rassistischer Unterdrückung der indigenen Bevölkerung Australiens ausgeblendet. Seine Aussage war von Rassismus und Antisemitismus durchsetzt, und dies obwohl ihm klar vor Augen stehen musste, dass Herkunft allein nichts über Soziabilität aussagt.

Martin Jost promoviert am Leibniz-Institut für jüdische Geschichte und Kultur – Simon Dubnow zur Gedächtnis- und Ereignisgeschichte der Konferenz von Évian | jost(at)dubnow.de

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