Was die Rezeption Walter Benjamins von der anderer Denker der Kritischen Theorie und ihres Umfeldes unterscheidet, ist nicht nur die enorme disziplinäre Breite, die von der Philosophie über Literatur-, Kultur-, Medien-, und Filmwissenschaft bis hin zur Kunstgeschichte reicht. Anders als beispielsweise dem Werk und Leben Theodor W. Adornos eignet der Biografie des 1892 in eine großbürgerliche jüdische Familie in Berlin geborenen Benjamin und ihrer Verflechtung mit seinen Schriften eine geradezu dramatische Qualität, die zur kulturellen und zuweilen kulturindustriellen Sphäre hinneigt; über Benjamin sind nicht nur Studien, sondern auch Romane, Theaterstücke und Kinderbücher verfasst worden.Bereits 1996 erschien Jay Parinis sensationalistischer und unangenehm melodramatischer Roman Benjamin’s Crossing (dt. Dunkle Passagen), dessen 2017 angekündigte Verfilmung mit Colin Firth in der Hauptrolle noch aussteht; David Mauas lieferte 2005 den filmischen Essay Who killed Walter Benjamin?; Robert Cohens Roman Exil der frechen Frauen (2009) lässt einen aufgewühlten Walter Benjamin auftreten; 2017 erschien das Kinderbuch Der geheimnisvolle Koffer von Herrn Benjamin von der Illustratorin Pei-Yu Chang; und 2018 wurde am Theater Heidelberg die Oper Benjamin von Peter Ruzicka mit einem Libretto von Yona Kim inszeniert. Wenn etwas Benjamins These vom Verlust der Aura aufgrund technischer Reproduzierbarkeit infrage stellt, dann sein eigener Eingang in den Kulturbetrieb und die Reauratisierung seines Lebens als wahlweise jüdisches, deutsches oder europäisches Schicksal.
Die Faszination, die auch heute noch von Walter Benjamin ausgeht, hat nicht nur etwas mit den in verschiedene Richtungen ausstrahlenden Erfahrungsschichten seiner Biografie zu tun, sondern ist in hohem Maße mit dem Ende seines Lebens, seiner Flucht vor den Nationalsozialisten und dem Suizid im spanisch-französischen Grenzort Portbou verbunden. Was über die Tage im September 1940 überhaupt bekannt ist, geht ausschließlich auf die Erinnerungen zweier Personen zurück: zum einen die erst 1985, also gut 45 Jahre nach Benjamins Tod, veröffentlichte Biografie Mein Weg über die Pyrenäen von Lisa Fittko, zum anderen auf Henny Gurland, die den hier gezeigten letzten Brief Walter Benjamins an seinen »Freund Adorno« übermittelte und in einem Schreiben an ihren Cousin Arkadij Gurland über die Umstände der Flucht berichtete.Aufmerksam rekonstruiert werden die Flucht und ihre Überlieferungsgeschichte in Verena Boos, Nachgehen. Eine Spurensuche auf Walter Benjamins letzter Fluchtroute, in: Zeithistorische Forschungen 3 (2018), https://zeithistorische-forschungen.de/3-2018/5619 (22. September 2020). Anders gesagt: Die Umstände der Flucht Walter Benjamins und ihres dramatischen Endes sind zwar plausibel, aber kein gesichertes Wissen, sondern Produkt einer brüchigen, lückenhaften Überlieferungsgeschichte.
Bereits aus dem nur neunzeiligen, im Adorno-Archiv aufbewahrten Brief Benjamins lässt sich die Unsicherheit der Tradierung herauslesen. Gemeinsam mit der 1900 in Aachen geborenen Henny Gurland und ihrem siebzehnjährigen Sohn Joseph war Benjamin unter Leitung der Fluchthelferin Lisa Fittko um den 25. September 1940 auf der sogenannten Ruta Líster nach Spanien aufgebrochen. In Portbou erfuhr der körperlich angeschlagene Benjamin zu seiner Bestürzung, dass die spanischen Behörden für den Grenzübertritt ein französisches Ausreisevisum verlangten; lediglich eine Übernachtung wurde ihm zugestanden, danach sollte er nach Frankreich zurückgebracht und den Deutschen übergeben werden. Angesichts dieser »ausweglosen Situation« entschloss sich Benjamin, mit einer Dosis Morphin sein Leben zu beenden. Nur wenige Tage später galten die Ausreisebestimmungen nicht mehr und der Rest der Gruppe konnte weiterreisen.