Zuallererst sehen wir Bewegung. Felder und Wälder ziehen am Auge vorbei. Die Kamera fährt durch die Wiener Außenbezirke. Mit dem Zug, begleitet vom Klang eines Saxofons, führen die ersten Minuten des Films Wien Retour (1983) von Ruth Beckermann und Josef AichholzerWien Retour, Dokumentarfilm von Ruth Beckermann und Josef Aichholzer, Wien 1983. zum Bahnhof Praterstern, dem damaligen Nordbahnhof im Zweiten Wiener Gemeindebezirk, der Leopoldstadt. Es ist das jüdische Wien, das hier aufgerufen wird, denn zu Beginn des 20. Jahrhunderts war dies die Route vieler Einwanderer aus dem Osten. Auf der sogenannten Mazzesinsel, der damals größten jüdischen Gemeinde Europas, fanden sie eine Zukunft. Und auch diejenigen, die nach dem Zweiten Weltkrieg in die österreichische Hauptstadt zurückkehrten, suchten häufig dort ein neues Zuhause. Etwas später im Film, im Büro des Journalisten Franz West, vormals Weintraub (1909–1985), lassen seine sprachgenauen und bildreichen Erzählungen die Zuschauer tief in die österreichische Zwischenkriegszeit eintauchen, und es wird klar: Die Zugfahrt in die Wiener Leopoldstadt führt zugleich in die Erinnerungen von Franz West.
Wien Retour ist der erste Teil einer Filmtrilogie der 1952 in Wien geborenen Dokumentarfilmerin Ruth Beckermann. Die Recherche hatte ihr den Anstoß zur Beschäftigung mit der jüdischen Geschichte ihrer Heimatstadt wie auch mit ihrer eigenen jüdischen Herkunft gegeben. Im Film schildert Franz West seine Kindheit und Jugendzeit in der Wiener Leopoldstadt und seine politische Sozialisation im »Roten Wien« jener Jahre. Der schüchtern lächelnde Mann erzählt in freier Rede von seinen Erlebnissen: von der jüdischen Bevölkerung, dem Erstarken der Arbeiterbewegung, dem Aufstieg von Austrofaschismus und Nationalsozialismus. Nie sucht er nach Formulierungen. Es ist, als würde er aus einem Roman vorlesen. Seine Geschichte ist nahbar – weil überaus persönlich vorgetragen – und distanziert zugleich, weil sie sich entrollt wie ein fertiger Text. Auch wenn Beckermann und Aichholzer Wests Bericht durch eindrückliches Archivmaterial – Schwarz-Weiß-Fotografien und Filmaufnahmen – ergänzt haben, sind es vor allem seine Worte, die uns das Wien der 1920er und frühen 1930er Jahre nahebringen.
Der 1923 als 14-Jähriger mit seiner Familie aus Magdeburg nach Wien gekommene West berichtet vor allem von dem erhebenden Gefühl der Emanzipation, das durch seine sozialistische Politisierung eintrat, von der fraglosen Zugehörigkeit zu einem gleichgesinnten Milieu auf der Mazzesinsel und der großen Erleichterung, sich nun nicht mehr »mit dem Jude-Sein herumschlagen« zu müssen. Hier sei er von Menschen umgeben gewesen, »die dieselben sind wie du, die dich nicht anpöbeln«. Als er von seinem Eintritt in die Wiener Jugend- und Arbeiterbewegung erzählt und von dem »natürlichen Weg« der Entrechteten in die Partei, die für die »Nichtshaber« da war, wird eine Ambivalenz des Wiener jüdischen Milieus wie auch der sozialistischen Bewegung offenbar. Denn Letztere lehnte alles Bürgerliche ab, während sich in der jüdischen Gemeinschaft – verbunden mit der Sehnsucht nach Assimilation an die österreichische Mehrheitsgesellschaft und insbesondere an das Wiener Bürgertum – schon über Generationen hinweg ein Aufstiegswille und ein bürgerlich geprägtes Bildungsideal etabliert hatten. Doch die Mazzesinsel existierte nicht jenseits einer Welt, in der Antisemitismus zum Alltag gehörte. Dass hier auch die Arbeiterbewegung keine Ausnahme bildete, bleibt in Wests Erzählung zunächst eine Leerstelle.
Diese erste Geschichte Franz Wests schildert die Selbstwerdung, die seine Haltung als Politiker und Journalist bestimmte. Sie verrät die Faszination des jungen Mannes für die schiere Masse und die politische Macht der Wiener Arbeiterschaft und seinen Stolz auf die kulturelle Kraft, deren Teil er war. Die Arbeiterbewegung habe ihm »von allen Seiten eine bestimmte Heimat gegeben«. Das Jüdische habe hingegen immer mehr »aufgehört«, es sei vom Sozialismus abgelöst worden, und noch 1983 sieht sich Franz West vorrangig als politisch Verfolgter. Zwar berichtet er, wie er als Student von nationalsozialistischen Kommilitonen aufgrund seiner jüdischen Herkunft verprügelt, wie er im Februar 1934 der Universität verwiesen und 1936 sogar verhaftet wurde. Doch in dieser etablierten, der äußeren Geschichte seines Lebensweges, versteht er sich vor allem als Sozialist.
Seine zweite Geschichte gibt West gegen Ende des Films preis, als er plötzlich ein Aufnahmegerät hervorholt. In diesem Moment übernimmt der zuvor Interviewte die Regie. Das in Abwesenheit der Kamera besprochene Band, das er nun abspielt, gibt Franz Wests Stimme wieder, die zum ersten Mal vom jüdischen Schicksal seiner Familie berichtet: von ihrem Verschwinden, von ihrer Verschleppung und von ihrer Ermordung. Gerade die präsente Verborgenheit dieser zweiten Erzählung offenbart ihre schmerzliche Kraft, alles andere seines Berichts infrage zu stellen. Er kann beide Geschichten nicht als eine erzählen und teilt sie auf, stellt sie nebeneinander: den eigenen Lebensweg als verfolgter Kämpfer für eine sozialistische Zukunft und die Geschichte der Verfolgung und Vernichtung seiner Familie. Während die ruhige Stimme Wests nacheinander all seine Verwandten aufzählt, sehen wir ihn vor uns, wie er sich selbst stillschweigend zuhört. Mit jedem weiteren Namen und der fast unerträglichen Mischung aus Nüchternheit und Verzweiflung dringt die Sinnlosigkeit des Erzählten tiefer in das Bewusstsein der Zuschauer ein. Man selbst möchte schweigen, während sich die Kamera wieder in Bewegung setzt, das Bild wieder einen Zug zeigt. Die letzten Worte Franz Wests am Ende von Ruth Beckermanns Film begleiten uns auf der Fahrt hinaus aus Wien, diesmal bei Nacht.
Svenja Kipshagen promoviert an der Universität Göttingen über Leben und Werk der jüdischen Sozialpsychologin Marie Jahoda (1907–2001) | svenja.kipshagen(at)stud.uni-goettingen.de
Sämtliche Filmausschnitte sowie das Titelbild sind Wien Retour dem Dokumentarfilm von Ruth Beckermann und Josef Aichholzer, Wien 1983, entnommen und konnten dank freundlicher Genehmigung der Ruth Beckermann Filmproduktion veröffentlicht werden.
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