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Blog der Doktorandinnen und
Doktoranden am Dubnow-Institut

Der Sachenfänger von Hameln in Berlin-Moabit

Ein Geburtstagsgedicht von 1939

von

Er antizipiere ihre Enttäuschung über die ausbleibenden Gaben, heißt es scherzhaft in dem liebevoll gestalteten Gedicht des Berliner Kinderarztes Hans Schmoller anlässlich des 51. Geburtstags seiner Ehefrau Marie im Januar 1939. Es gebe dafür aber einen Grund: »Wohin Du blickst auf diese Wände«, reimt er, »Da siehst Du nichts als Gegenstände«. Für Neues sei in der übervollen Wohnung schlicht kein Platz mehr. Er sei daher gezwungen, sich »im Raume [zu] beschränken« und ihr »ein kleines Nichts […] zu schenken«.

Excerpt from a letter from Hans Schmoller to his son Hans Peter Schmoller dated 4 January 1939, with a poem on the occasion of his wife Marie’s 51st birthday. Source: Wiener Holocaust Library Collections, 1690/2/198, Hans Schmoller Family Papers.
Excerpt from a letter from Hans Schmoller to his son Hans Peter Schmoller dated 4 January 1939, with a poem on the occasion of his wife Marie’s 51st birthday. Source: Wiener Holocaust Library Collections, 1690/2/198, Hans Schmoller Family Papers.

Hintergrund dieses Gelegenheitsgedichts ist der Einzug von Schwiegermutter und Schwägerin Anna und Johanna Behrend in die großzügige bürgerliche Wohnung des Ehepaars Schmoller in Moabit, eine Entscheidung, die man nach den Novemberpogromen aus der Not heraus getroffen hat. Die beiden haben sich »krankhafter Weise trotz Auswanderungsplänen«, so Hans Schmoller in seinem Brief an den bereits emigrierten Sohn Hans Peter, »kaum von etwas noch so Wertlosem trennen können«, während sich Schmollers zum »Ausmisten«, zur Trennung selbst von erinnerungsbeladenen Gegenständen durchgerungen haben. Sind der äußere Radius und die Möglichkeiten, das Haus zu verlassen, bereits eingeschränkt, die soziale Isolation groß und somit die Wohnung der zentrale Aufenthaltsort, so dezimieren die zahllosen Objekte den zur Verfügung stehenden Raum noch zusätzlich.

Das Gedicht ist eine kleine, humorvolle Abrechnung mit den beiden neuen Mitbewohnerinnen und ihren Dingen:

Vielleicht war all dies hörig
’nem Sachenfänger (denkt an Hameln)
Der alles dieses tat versammeln
Mit irgendeinem Zaubersang
Und hier in diese Räume zwang

Wo immer man hinschaue, sehe man

Koffer, Kisten Truhen, Kästen
teils invalid, teils von den Besten
Und Körbe, Taschen und Behälter
um so geliebter, wie sie älter,
Die Vasen, Schalen, Becher, Urnen
um die wir hier seit Tagen turnen.

Überall stünden, teils abgenutzt und beschädigt, Silber- und Porzellanfiguren: hier ein Humpen aus Nassau, dort eine Kopie des Fauns von Pompeji, hier ein Satz von Tennisschlägern, dort ein »Schwarm« von Tellern, Tassen und Gläsern.

Am Ende zeigt sich Schmoller aber doch versöhnlich:

Zum Schluß fand jeder Gegenstand
Ja wo noch irgend welche Wand

Und damit seinen Ort in der Wohnung. Er scheint zu akzeptieren, dass es sich um Gegenstände handelt, die ihre Bedeutung nicht im praktischen Nutzen entfalten. Als Erinnerungen an Orte von Nassau bis Pompeji und ein gesellschaftliches Leben, das die Mitgliedschaft im Tennisclub und die Abendgesellschaft im eigenen Haus einst einschloss – Orte, die für sie als Juden nun nicht mehr erreichbar sind, Aktivitäten, die ihnen nicht mehr offenstehen –, heben sie die Enge, die sie auf einer räumlichen Ebene erzeugen, auf einer anderen wieder auf.

Zudem strukturieren und bestimmen die vermeintlich nutzlosen Dinge einen Raum in der Wohnung, der trotz der gewachsenen Zahl an Bewohnern noch die Rolle eines Wohnzimmers übernehmen kann, weder Arbeits-, Ess- noch Schlafzimmer ist und damit keine unmittelbar praktische Funktion aufweist. Er erhält von den Bewohnern den Namen »Neutralien«, als Ort, der keinen einzelnen Besitzer kennt und als »neutrales Territorium« Sicherheit suggeriert, sich als exterritorialer Raum, als Fantasieort jenseits äußerer Bedrängnisse und praktischen Notwendigkeiten darstellt und jenseits der bedrückenden Realität existiert. Die Anlehnung des Namens an den Kontinent Australien, den Ort, an dem ein Neffe der Schmollers Zuflucht gefunden hat, ist dabei sicherlich kein Zufall. Gerade in diesem Raum finden sich einige der »nutzlosen« Objekte versammelt: Der Pavianleuchter hat hier ebenso seine Bedeutung wie der behrendsche Gläserschrank, auf dem gleich mehrere Messingleuchter platziert sind. Hier spielt man Karten, hört Radio, macht Hausmusik und lässt sich auf den »geblümten Sesseln« nieder, um »Trost bei Goethe« zu suchen und zu finden.

Als den Schmollers im Sommer 1941 auch noch Untermieter zugewiesen werden und die nutzbare Fläche weiter schrumpft, setzt man Möbelstücke dazu ein, einen der verbliebenen Räume zu unterteilen, um »Neutralien« zu erhalten. Das Festhalten an der gewohnten Raumaufteilung und die Aufrechterhaltung eines bürgerlichen Lebensstils werden essenziell für das innere Überleben. Entscheidend ist aber nicht zuletzt die Atmosphäre, die der Raum mit seinen Dingen entwickelt: Hier finde man ein Stück »Gemütlichkeit«, heißt es in den Briefen aller vier Bewohner. Dass es sich – das Festhalten an den nutzlosen Dingen eingeschlossen – um eine gewisse Form der Inszenierung handelt, man letztlich eine »Scheinbehaglichkeit« lebe, wie Marie Schmoller es formuliert, ist allen bewusst. Dadurch wird der Umgang mit den Dingen zu einem Akt der Selbstbehauptung. Als an Weihnachten 1941 Hans Schmoller für einen »Aufbau« mit Tannenzweigen, Weihnachtskugeln und Marzipan nach Kriegsrezept in »Neutralien« sorgt und damit eine Weihnachtsstimmung, Inbegriff bürgerlicher Heimeligkeit und Wärme, zu erzeugen weiß, schreibt Marie Schmoller ihrem Sohn, er könne sehen, man sei bemüht, sich »nicht unterkriegen zu lassen«.

Zum Geburtstag erhält Marie Schmoller im Übrigen im Januar 1939 doch kein bloßes »Nichts«: Auf dem Gabentisch präsentiert Hans Schmoller in alten Arzneifläschchen Tulpen (im Winter!), arrangiert neben »Liqueurfläschchen« und »Cigarette« noch »Karamell« und »Chocoladen« – und das der Ehefrau gewidmete Gedicht, das trotz allen Klagens über die Menge an »Kram« dennoch die volle, dafür aber »gemütliche« Wohnung ehrt und bei den Zuhörern »sehr viel Beifall erntet[]«. »Du siehst,« schreibt Hans Schmoller seinem Sohn, dem er das kleine Gedicht kurz nach dem Geburtstag stolz übermittelt: »[W]ir können auch noch Scherze machen« – der Beengtheit und der ungewissen Zukunft zum Trotz.

Johanna Behrend emigrierte noch 1939 nach England, Anna Behrend starb 1942 in Berlin und das Ehepaar Schmoller wurde 1942 deportiert und kurz darauf in Theresienstadt beziehungsweise Auschwitz ermordet, während sich das Schicksal der dreiköpfigen Familie, der Untermieter der Schmollers, im Dunkeln verliert. Die Wohnung im Haus Alt-Moabit 86 c wurde kurz nach der Deportation der letzten Bewohner aufgelöst, die Gegenstände – vom Faun bis zur Pavianlampe – wohl versteigert oder zerstört. Überlebt hat neben den Briefen aber dieses Geburtstagsgedicht, das ein Bild dieser Wohnung und der Ordnung ihrer Dinge bewahrt. Zugleich ist es Zeugnis eines mutigen Lebenswillens, der gerade im Umgang mit diesen Objekten seinen Ausdruck findet. Die zu »Kram« gewordenen Dinge der Erinnerung an ein unmöglich gewordenes Leben werden eingefügt in eine neue Ordnung, in der die Dinge dazu genutzt werden trotz der räumlichen Beengtheit und ungewissen Zukunft ein Gefühl von Zuhause zu erzeugen, in dem auch einzelne Glücksmomente möglich sind.

Judith Siepmann has been a PhD candidate at the Dubnow Institute and is writing her dissertation on the history of collections of Jewish-Silesian provenance in the twentieth century under the supervision of Yfaat Weiss whom she initially met in the framework of the project »Traces of German-Jewish History in Israel: Preservation and Research« (Rosenzweig Minerva Research Center/German Literature Archive, Marbach) and who encouraged her to continue on the academic path. – The text is based on a discovery Judith made in the course of her archival research for a project headed by Guy Miron (The Open University of Israel und International Institute for Holocaust Research, Yad Vashem), on the experience of space and time of German Jews during National Socialism | siepmann(at)dubnow.de

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