David Idelsohn (1891–1954) und Jehuda Polani (1891–1983) wurden beide in Nikolajew im jüdischen Ansiedlungsrayon des russischen Zarenreichs geboren. Zu Beginn des letzten Jahrhunderts, im Jahr 1904, wanderten sie nach Jerusalem ein, studierten hier im damaligen Osmanischen Reich am ersten Lehrerseminar, das für die örtlichen jüdischen Gemeinden eingerichtet worden war, und gründeten dann nach dem Ersten Weltkrieg im Jahr 1921 im noch jungen Tel Aviv zusammen eine private Grundschule. Später wurde diese Einrichtung die erste Schule in einem ausgedehnten Netz von Schulen des Allgemeinen Verbandes der Arbeiter im Land Israel (Histadrut). Bei Recherchen im Rahmen meiner Dissertation, in der ich mich auch mit dem beruflichen Werdegang dieser zwei Jugendlichen beschäftigte, fand ich im Aviezer-Yellin-Archiv für jüdische Bildung in Israel und der Diaspora ein Tagebuch, das Idelsohn während eines beruflichen Aufenthalts im April 1922 in Deutschland geschrieben hatte, genau vor einhundert Jahren. Dieses Dokument gehörte einmal zu einer langen Liste von Dokumenten, die mir dabei halfen, den Einfluss der deutschen Pädagogik, insbesondere der Reformpädagogik für das Grundschulalter, auf den zeitgenössischen Bildungsdiskurs im modernen Jischuw nachzuzeichnen.
Neues Wissen erkennen
Ein junger Lehrer aus Tel Aviv auf Bildungsreise in Deutschland
von Miriam SzametIn seinem auf Hebräisch verfassten Tagebuch, das mit einigen deutschsprachigen Einlagen versehen war, dokumentierte Idelsohn akribisch seinen Besuch an vier Schulen, deren pädagogisches Konzept damals in Deutschland und in Europa als besonders innovativ und originell galt: der Wendeschule in Hamburg, der sogenannten Hauslehrerschule von Berthold Otto (1859–1933) in Berlin-Lichterfelde, der Freien Schulgemeinde Wickersdorf und der Odenwaldschule. Nur wenige Monate nachdem er und Polani die Hebräische Arbeitsschule in Tel Aviv gegründet hatten, reiste Idelsohn für drei Wochen nach Europa, um sich von den damals einflussreichen Lehrern dieser Schulen inspirieren zu lassen. Weswegen verwandte er wohl damals so viel Zeit auf das Schreiben eines Tagebuchs, das heute das einzige materielle Überbleibsel dieser Reise ist?
Zunächst einmal diente es dazu, seine vielen Eindrücke während der Reise festzuhalten, buchstäblich wie ein dichtes, privates Tagebuch. Während des Besuchs beförderte die Praxis des Schreibens zudem die Aufmerksamkeit und Konzentration auf Details und die vielen Themen, die Idelsohn in diesen vier Schulen untersuchen wollte. So geht er in seinen Beschreibungen auf zahlreiche Einzelheiten des Schullebens ein wie z. B. den besonderen Stellenwert von praktischen Lerninhalten – von Hausarbeit, Reparaturen oder Kochen in der Schule –, den hohen Grad der Freiheit, den die Mädchen und Jungen während des Lernens hatten, die Struktur des Lehrplans, die Zusammensetzung der Klassen und Lerngruppen, die verschiedenen Unterrichtsmethoden, den Sprachunterricht, aber auch auf die Beziehungen zwischen Schülern und Lehrern sowie jeweils untereinander. Gelegentlich fügte Idelsohn seine persönliche Meinung zu dem Gesehenem hinzu, aber das Tagebuch enthält über diese professionellen Themen hinaus keine weiteren Details und vor allem keinerlei privaten Informationen. Das Tagebuch wurde auch nicht in einer Fachzeitschrift veröffentlicht wie einige Jahre später ein anderes, das Idelsohn während einer beruflichen Reise in die Sowjetunion verfasste und das in der hebräischen Zeitschrift Hed HaʼChinuch (Echo der Bildung) publiziert wurde. Aber es ist anzunehmen, dass das Tagebuch der Reise durch Deutschland unter anderem dazu dienen sollte, Idelsohn in die Lage zu versetzen, seine Eindrücke mit seinen Kollegen im damaligen Palästina zu teilen und ihnen einen plastischen Eindruck davon zu vermitteln, was in einem Arbeitsfeld geschieht, das als führend in der Pädagogik galt. Nach ihrer Rückkehr nach Tel Aviv führten Idelsohn und Polani während des folgenden Schuljahres die Praxis ein, dass Lehrkräfte selbst eine Woche lang ein professionelles Tagebuch über ihre Arbeit und Erfahrungen in einer Klasse schreiben. Handelte es sich hierbei um eine Folge seiner Reiseerfahrungen in Deutschland? Wir wissen es nicht genau, aber wir können davon ausgehen, dass diese Methode auch gewählt wurde, weil sie ihre Vorteile hatte: die Konzentration auf Details, eine stetige Reflexion, die Beförderung des professionellen Austauschs und die Dokumentation für die Zukunft.
Welches Wissen eignete sich Idelsohn nun in Deutschland konkret an und wie wirkte sich dieses auf seine spätere pädagogische Arbeit in Palästina aus? Seine Berichte über die vier Schulen waren nicht einheitlich. Die Wendeschule in Hamburg beeindruckte ihn vor allem durch die enge Zusammenarbeit von Lehrern und Eltern, das Lernen in Gruppen ohne Altersbeschränkungen und ohne Geschlechtertrennung, die nur auf Interessensgebieten basieren, die Beteiligung der Kinder an vielen Entscheidungen, zum Beispiel auch der Frage, ob ein Gast aus Erez Israel die Schule besuchen darf oder nicht. Von der zweiten Schule, die er sich angesehen hatte, der Hauslehrerschule von Berthold Otto in Berlin, war er eher enttäuscht: Sie hinterließ bei ihm den Eindruck, dass die Lehrkräfte in den Klassenzimmern sehr stark dominierten, und obwohl Otto dreißig Jahre zuvor als äußerst innovativ gegolten hatte, schien die Schule jetzt in der Zeit stehen geblieben zu sein und ihren dynamischen und flexiblen Charakter verloren zu haben. Außerdem stellte Idelsohn überrascht fest, dass die meisten Schüler trotz Ottos offenem Deutschnationalismus jüdischer Herkunft waren. Die dritte Schule in Wickersdorf missfiel Idelsohn besonders und er kritisierte sie aus einer sozialistischen und politischen Perspektive: Er sah in ihr eine Einrichtung, die Kinder erzieht, die Diener brauchen, Kinder, deren Bildung der lebenspraktische Bezug fehlte, weil die alltäglichen Arbeiten wie Kochen, Waschen und die Instandhaltung der Räume und des Gartens von angestellten Arbeitern erledigt wurden, von Erwachsenen, die gar nicht Teil der Schulgemeinschaft waren. Hingegen war er positiv angetan von der Odenwaldschule und zwar insbesondere von den guten Lehrer-Schüler-Beziehungen wie auch von der angewendeten Lernmethode thematischer Interessengruppen.
Kurz vor dem Entschluss, seinen Besuch in Wickersdorf zu beenden, schrieb Idelsohn in sein Tagebuch:
»Morgen werde ich wahrscheinlich abreisen, da ich nun genug habe. Ich möchte wieder an meine Arbeit gehen. Alles, was ich bis jetzt an allen Orten, die ich besucht habe, gesehen habe, sagt mir eine erfreuliche Sache: wir sind auf dem richtigen Weg, wir haben unsere Arbeit nicht weniger als die anderen gewogen und überdacht, und mit unserem neuen Projekt werden wir vielleicht sogar mehr erreichen als all die Erneuerer hier.«
Für uns Historikerinnen und Historiker verkörpert dieses bescheidene, nur dreißig Seiten umfassende Notizbuch eine mikrohistorische Darstellung von Themen, denen Yfaat Weiss in ihrer Forschung immer viel Aufmerksamkeit gewidmet hat: der großen Bewegung des Wissenstransfers von Europa in den modernen Jischuw im Besonderen während seiner Gründung und der Herausbildung neuer und einflussreicher Berufsfelder ebendort.
Miriam Szamet is faculty member of the Mandel School for Educational Leadership in Jerusalem of the Jack, Joseph and Morton Mandel Foundation, Israel, and Kreitman Postdoctoral Fellow at the Research Institute for the Study of Israel and Zionism at the Ben Gurion University of the Negev in Sde Boker. She wrote her PhD on »Jewish Pedagogues and the Pedagogical Discourse in Palestine, 1880–1934« under the supervision of Yfaat Weiss at the Hebrew University of Jerusalem. About the collaboration with her she said: »Yfaat Weiss infected me with her love of archives and the joy of finding a document that is surprisingly rich – a document that embodies in its small story the great stories of times past.« | mszamet(at)mandel.org.il.
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